Physik des Fahrradfahrens

Hansruedi Zeller

Obschon fast jedermann das Fahrradfahren beherrscht, ist das Verständnis der Physik des Fahrradfahrens sehr wenig verbreitet. Erste Modelle für die Stabilität gegen Kippen beruhten auf Kreiseleffekten. Da jedoch die Gesamtmasse Fahrer – Fahrrad etwa zwei Grössenordnungen über der Masse von Felge und Pneu liegt und zudem der Schwerpunkt dreimal höher liegt als die Radnabe, ist der direkte Beitrag der Kreiselkräfte zur Stabilität gegen Kippen unbedeutend. Die vielleicht wichtigste Arbeit zur Physik des Fahrradfahrens stammt von Jones (Physics Today 23, April 1970) [1]. Jones hat die Kreiselkräfte eliminiert, indem er die Räder durch winzige Kugellager ersetzte. Die Fahrräder blieben perfekt fahrbar. Dagegen erwies sich die Lenkgeometrie als zentral für das Fahrverhalten. Lag die Projektion der Steuerrohrachse auf den Boden vor dem Kontaktpunkt K des Vorderpneus (Bild 1), erwiesen sich die Fahrräder als stabil, sonst als instabil.

Welches sind denn die Kräfte, die Stabilität gegen Kippen vermitteln? In einer stationären Kurvenfahrt bei nicht allzu geringer Geschwindigkeit, ist es die Zentrifugalkraft. Gleichgewicht ist erreicht, wenn der Summenvektor aus Schwerkraft und Zentrifugalkraft in der Ebene Schwerpunkt – Bodenkontaktlinie der Pneus liegt. Da die Zentrifugalkraft mit v2 (v = Geschwindigkeit) skaliert, genügt sie bei sehr kleinen Geschwindigkeiten nicht mehr um das Kippmoment zu kompensieren. An ihre Stelle tritt eine verwandte Scheinkraft, die Knickkraft. Sie beruht darauf, dass die Trajektorie des Vorderrades einen Knick durchläuft, wenn die Lenkerausdrehung σ einen Sprung macht. Für endliche Drehgeschwindigkeiten entsteht anstelle des Knicks ein sehr kleiner momentaner Kurvenradius. Die Knickkraft ist proportional zu v·dσ/dt, nimmt als also schwächer mit v ab als die Zentrifugalkraft. Der Übergang vom Zentrifugalkraftbereich zum Knickkraftbereich ist fliessend. Er geschieht etwa bei Fussgängertempo und macht sich durch zunehmend rasche Korrekturbewegungen am Lenker bemerkbar. Die Knickkraft wird auch ausgenutzt um bei hohen Geschwindigkeiten eine Kurve einzuleiten. Eine rasche Lenkbewegung in die „falsche“ Richtung löst eine Knickkraft aus, die den Schwerpunkt sehr schnell in die Kurve kippt. Erst wenn die erforderliche Verkippung erreicht ist, wird die eigentliche Kurve angefahren.

Jones zeigte als erster, dass die Lenkgeometrie für das innere Regelverhalten des Fahrrads entscheidend ist. Am Kontaktpunkt des Vorderpneus zum Boden greifen zwei Kräfte an, die nach oben gerichtete Normalkraft und die nach innen gerichtete Zentripetalkraft. Da der Kontaktpunkt im Allgemeinen nicht in der Steuerrohrachse liegt, bewirken die Kräfte ein Drehmoment am Lenker. Liegt der Kontaktpunkt hinter der Steuerrohrachse, so spricht man von Nachlauf. Bei Nachlauf wirkt die Normalkraft ausdrehend, die Zentripetalkraft rückstellend. In linearer Näherung (kleine Kipp- und Drehwinkel) ist die Gleichgewichtsausdrehung σ0 des Lenkers, bei der sich die Drehmomente zu Null addieren, gegeben durch:

Dabei ist Φ der Steuerrohrwinkel, L der Radstand, g die Erdbeschleunigung und θr der Kippwinkel des Rahmens. Für Φ ≠ 90° hat das Kreiseldrehmoment des Vorderrades eine Komponente in der Steuerrohrachse. Da sie, genauso wie die Zentrifugalkraft, proportional zu v2 ist, kann sie durch einen konstanten Korrekturfaktor F berücksichtigt werden. Für typische Massenverhältnisse beträgt F ungefähr 1.12. Die Gleichung hat nur für Geschwindigkeiten oberhalb

eine Lösung. Der wichtigste Geometrieparameter für die Festlegung von vcrit ist der Steuerrohrwinkel Φ. Bei einem senkrechten Steuerrohr wäre vcrit = 0. Typische Steuerrohrwinkel liegen in der Gegend von 70°, was zu vcrit = 6 – 7 km/h führt.

Der Fahrwinkel α, der bei einer Schwerpunktsverkippung θs zu einer stabilen Kurvenfahrt führt, ist gegeben durch

Unter Verwendung der Kleinwinkelnäherung α ≈ sin (φ) σ findet man für das für Stabilität erforderliche Verhältnis V von Rahmenkippwinkel zu Schwerpunktskippwinkel beim Freihandfahren:

Beim Freihandfahren ist V der einzige Einflussparameter, über den der Fahrer verfügt. Wie Bild 2 zeigt, muss oberhalb etwa 18 km/h der Rahmen leicht mehr verkippt werden als der Schwerpunkt. Bei abnehmender Geschwindigkeit wird der Rahmen immer weniger verkippt. Unterhalb vcrit ist Freihandfahren nicht mehr möglich. Jede noch so kleine Rahmenverkippung führt zu einem unkontrollierten Lenkerausschlag. Die Lösung σ0 = 0 für θr = 0 verliert ihre Stabilität. Beim Fahren mit der Hand am Lenker ist das geschilderte Regelsystem bequem, aber nicht erforderlich. Wenn man das Regelsystem zerstört, durch z. B. einseitiges Anhängen eines Gewichts am Lenker, ist Fahren trotzdem möglich. Ebenso ist gelenktes Fahren unterhalb vcrit problemlos.

Im Stillstand ist nur noch das auslenkende Drehmoment der Normalkraft vorhanden. Die stabile Lösung für die Gleichgewichtsausdrehung ist jetzt gegeben durch die Bedingung Kraftarm = Nachlauf = Null. Beim aufrechten Fahrrad (θr = 0) ist dies erfüllt für:

Ohne Kröpfung (resp. Nabenversatz) kr, wäre σnull = 90° und würde sich beim Stossen mit der Hand am Sattel der Lenker quer stellen und die Fahrt blockieren. Eine Kröpfung kr = 6 cm bei einem Rad mit r = 36 cm und Φ = 70° reduziert die Auslenkung auf knapp über 60°. Dieser Wert ist ein Kompromiss zwischen Bequemlichkeit beim Hantieren im Stillstand und der Stabilität. Die v =0 Kurve in Bild 3 ist die Kurve Nachlauf = Null und stellt deshalb die Grenze der Stabilität dar. Mit zunehmender Verkippung verschiebt sich der Nullpunkt des Nachlaufs zu kleineren Winkeln.

Interessant ist der Übergang von der Nachlauf = 0 Lösung bei v = 0 zum quasilinearen Verhalten bei höheren Geschwindigkeiten (Bild 3). Erst oberhalb etwa 4 km/h vermag die Zentrifugalkraft ein Gleichgewicht der Drehmomente zu erzeugen und erst oberhalb vcrit ist die Nullgrad Auslenkung bei senkrechtem Rahmen stabil. Ein quasilineares Verhalten über einen vernünftigen Bereich ist erst oberhalb etwa 10 km/h vorhanden. Ein grösserer Wert von kr würde die Nachlauf = 0 Kurve in Bild 3 weiter nach unten drücken, den Stabilitätsbereich (Fläche unterhalb der Kurve) verkleinern und die Nichtlinearitäten erhöhen.

Bild 3 zeigt, dass mit den in einem guten Fahrrad verwendeten Geometrieparametern ein optimales Fahrverhalten erreicht ist. Im Bereich der Stabilisierung durch die Zentrifugalkraft wünscht man ein quasilineares σ0r). Dies ermöglicht Freihandfahren. Im Bereich der Knickkraft, bei sehr kleinen Geschwindigkeiten, ist eine stabile Kleinwinkellösung für das Lenkergleichgewicht unerwünscht. Die Instabilität soll den Fahrer in den Korrekturbewegungen unterstützen. Mit Φ = 70° liegt vcrit wie gewünscht im Übergansbereich. Eine Kröpfung von 6 cm reduziert die Gleichgewichtsausdrehung im Stillstand auf etwas über 60°, ohne den Stabilitätsbereich bei hohen Verkippungen ungebührlich zu vermindern.

 

Eine Betrachtung des dynamischen Verhaltens würde den Rahmen des Artikels sprengen. Die linearisierten dynamischen Differentialgleichungen für die Verkippung und für die Lenkerausdrehung sind gekoppelt und von 2. Ordnung. Bei einem starren System (θr = θs) tritt oberhalb etwa 18 km/h eine Kipp-Instabilität auf und unterhalb etwa 15 km/h eine Oszillations-Instabilität. Das bewegliche Hüftgelenk des Fahrers entkoppelt θrvon θs und wirkt als effiziente Dämpfung. Somit können Oszillationen bis knapp oberhalb vcrit vermieden werden. Bei hohen Geschwindigkeiten wird in der Bewegungsgleichung des Lenkers das zu dθr/dt proportionale Kreiseldrehmoment wichtig. Es wirkt analog zu einer negativen Dämpfung und unterstützt dadurch die Korrekturbewegungen am Lenker.

Ausführlichere Betrachtungen finden sich unter http://sites.google.com/site/bikephysics/Home

 

Tabelle 1: Zusammenfassung des Einflusses der Geometrieparameter

GeometrieparameterEinfluss auf das Fahrverhalten
Steuerrohrwinkel Φ- Erzeugt den Nachlauf
- Legt die kritische Geschwindigkeit vcrit fest
- Idealerweise liegt vcrit am unteren Ende des Zentrifugalkraftbereichs. Dies führt zu Φ ≈ 70°.
Nachlauf Δ- Bewirkt quasilineares Regelverhalten oberhalb vcrit und ermöglicht dadurch Freihandfahren
- Bewirkt Instabilität der Kleinwinkelposition des Lenkers unterhalb vcrit. Dies unterstützt die Korrekturbewegungen bei sehr kleinen Geschwindigkeiten
Kröpfung, resp. Nabenversatz kr- Reduziert die Lenkerausdrehung im Stillstand
- Reduziert den Regelbereich (Bereich mit Nachlauf)
- Reduziert die Regelverstärkung
- Optimum gegeben durch Kompromiss zwischen Bequemlichkeit bei v ≈ 0 und grossem Regelbereich.

 

[1] http://www.phys.lsu.edu/faculty/gonzalez/Teaching/Phys7221/vol59no9p51_56.pdf

 

Hansruedi Zeller, Dr. sc. nat., ETH. Positionen in der Industrieforschung bei General Electric USA, BBC/ABB Schweiz. Geschäftsleitungsmitglied bei ABB Semiconductors. Zuletzt Senior Consultant bei Consenec AG.

 

 

[Veröffentlicht: Juli 2009]