Im 2. Artikel unserer Serie geht es um Leonhard Euler, dessen 300. Geburtstag letztes Jahr gefeiert wurde. Ein mit beeindruckenden Referaten organisierter Jahreskongress der SCNAT fand im September 2007 in Basel statt, um den Polyhistor Euler als Mensch und Wissenschafter uns näher zu bringen, aber auch um Missverständnisse zu korrigieren. So erkennt man in manch populärer Literatur dem Physiker Euler nicht die Bedeutung zu, die er als Mathematiker geniesst. Das erstaunt; denn gerade moderne Arbeiten, zum Beispiel der Modellierung von Turbulenzen [1], nehmen explizit Bezug auf Eulers Fundamentaluntersuchungen. Ein möglicher Grund für diese Fehlbeurteilung wurde im Referat von Michael Eckert in Basel angesprochen und wird nun im folgenden Artikel präsentiert. Unser Autor ist Physikhistoriker am Deutschen Museum in München und ausgewiesener Fachmann für die Geschichte der Strömungslehre. Ohne seinem Beitrag vorgreifen zu wollen, sei jedoch jetzt schon als Fazit festgehalten: ‚Riskmanagement’ hätte es schon vor 250 Jahren geben sollen, und Physiker, die oft am Anfang einer technischen Wertschöpfungskette stehen, sollen auch immer die nachfolgenden Prozesse beobachten, um rechtzeitig bei Fehlleistungen eingreifen zu können !

Bernhard Braunecker, SPG-Sekretär

 

[1] ’Turbulenzübergänge’, B. Eckhardt, B. Hof, H. Faisst, Physik in unserer Zeit; 5/2006 (37) p.212. Eindrucksvolle Belege für die Aktualität von Eulers Arbeiten wurden auch auf einer Konferenz zum Thema „Euler Equations: 250 Years On“ dargeboten, vgl. www.oca.eu/etc7/EE250/.

 

Euler und das Fiasko von Sanssouci

„Ich wollte in meinem Garten einen Springbrunnen anlegen“, schrieb Friedrich der Große am 25. Januar 1778 an Voltaire. Das Projekt endete jedoch in einem Fiasko. Der Preußenkönig blickte von seinem Schloss Sanssouci auf Brunnenanlagen, aus denen keine Fontänen in die Höhe schossen. Dabei sollte die Wasserkunst nach den neuesten Erkenntnissen der Hydraulik ausgeführt werden und selbst Versailles an Pracht übertreffen. „Euler berechnete die Leistung des Räderwerks, damit das Wasser in ein Bassin hinaufgelänge, über Kanäle wieder abfließe, um in Sans-Souci aufzusteigen. Meine Mühle wurde nach allen Regeln der Mathematik gebaut, und sie konnte keinen einzigen Wassertropfen weiter als fünfzig Schritt unter das Bassin hinaufpumpen. Eitelkeit der Eitelkeiten! Eitelkeit der Mathematik!“ [1]

Das Fiasko von Sanssouci gilt seither als Paradebeispiel für das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis. Und Leonhard Euler, das Mathematikgenie aus Basel, wurde zur Zielscheibe von Spott und Schadenfreude. „Das physikalische Universum bot Euler eine Gelegenheit, Mathematik zu treiben, es war ihm nicht als solches von Interesse; und wenn das Universum nicht mit seiner Analysis übereinstimmte, dann lag der Fehler beim Universum,“ liest man in einem populären Buch mit dem Titel „Die großen Mathematiker“. Und ein Physikhistoriker brachte es auf den lapidaren Schluß: „Der geniale Mathematiker Euler war zweitklassig als Physiker“. Es fehlt auch nicht an Vermutungen für die Gründe seines Scheiterns. „Unglücklicherweise hat er die Wirkung der Reibung weggelassen, mit peinlichen praktischen Folgen,“ vermutete ein Physiker.

Was ist damals im Schlosspark von Sanssouci geschehen? Wir wissen darüber aus einer Baugeschichte, die vom letzten Architekten des Königs verfasst wurde, sehr gut Bescheid. Friedrich der Große wünschte neben einer Vielzahl von im Park verstreuten Brunnen eine Fontäne von mindestens 30 Meter Höhe – in einem Park, der nur von dem in einiger Entfernung träge dahinfließenden Havelwasser zehren konnte. Der Plan sah vor, mit einem Kanal Wasser von der Havel in einen am Rand des Schlossparks gelegenen Saugbrunnen zu leiten, von wo es durch eine Pipeline in ein höher gelegenes Reservoir gepumpt werden sollte. Die Pumpe sollte von einer Windmühle angetrieben werden. Das Reservoir war etwa 1 km vom Saugbrunnen entfernt auf dem Höneberg – gut 50 Meter über dem Wasserspiegel der Havel – und hätte die im Schlosspark verteilten Springbrunnen beliefern sollen. Der Höhenunterschied sollte den nötigen Druck für die Wasserfontänen in den Springbrunnen erzeugen.

Zunächst lief alles nach Plan. Das Wasserkunstprojekt nahm 1748, kurz nach Vollendung des Schlosses von Sanssouci, seinen Anfang. Zuleitungsgraben, Reservoir, Windmühle und Pumpe wurden in weniger als einem Jahr fertig gestellt. Die Rohre für die Pipeline zum Reservoir wurden aus Holzbohlen nach Art von Fässern, mit eisernen Bändern umklammert, zusammengefügt. Als man jedoch Wasser hindurchpumpte, platzten die Rohre am unteren Ende, bevor das Wasser beim Reservoir ankam. Jetzt ersetzte man diese aus Bohlen zusammengefügten Holzrohre durch ausgebohrte Fichtenstämme. Doch auch diese Rohre platzten. Nun war klar, dass Holzrohre dem Druck nicht standhielten. Jetzt wurde eine neue Pipeline aus Metallrohren zusammengesetzt, die zwar nicht platzten, aber zu wenig Wasser in das Hochreservoir förderten, weil sie falsch dimensioniert waren. Mit dem missratenen Pipelinebau verging viel Zeit. Dann sorgte der Siebenjährige Krieg (1756-1763) für eine weitere Unterbrechung. Am Ende riss dem König der Geduldsfaden, und er ließ das Unternehmen einstellen.

Der Chronist des fehlgeschlagenen Wasserkunstprojekts von Sanssouci hatte selbst leidvolle Erfahrungen mit den Bauprojekten des Preußenkönigs gemacht. Er wußte ein Lied von dessen extravaganten Wünschen zu singen, gepaart mit Knauserigkeit, was die Aufwendungen betraf. Er nannte die Namen der mit der praktischen Durchführung beauftragten Personen und sparte nicht mit Kritik, was ihre Eignung für diese Aufgabe betraf. Hätte Euler das Scheitern verursacht, wie der König in seinem Brief an Voltaire behauptete, dann wäre dies vermutlich auch in der Baugeschichte im Detail geschildert worden, aber Euler wird darin überhaupt nicht erwähnt!

Glücklicherweise sind wir über Eulers Wirken nicht auf Spekulationen angewiesen. Sein wissenschaftliches Werk und auch sein Briefwechsel mit Friedrich dem Großen und mit dem Präsidenten der Berliner Akademie sind in einer vielbändigen Edition überliefert. Wenn man diese Quellen auswertet, gelangt man zu dem Schluss, dass Euler keine Schuld am Fiasko von Sanssouci trifft. Seine Analyse führte zur modernen hydraulischen Theorie der instationären Rohrströmung. Wenn die Pumpe das Wasser im Rohr in Bewegung setzt, kommt es zu einem Druckanstieg am Rohranfang. Dieser Druckanstieg ist um so größer, je mehr Wasser sich in der Pipeline befindet; er ist auch vorhanden, wenn gar kein Höhenunterschied zu überwinden ist. Eulers hat diesen hydrostatisch nicht faßbaren, dynamischen Druck berechnet und daraus Empfehlungen für die Pumpenleistung und die Dimensionen der Pipeline gegeben, die jedoch nicht beachtet wurden. Er hat sogar ausdrücklich davor gewarnt, dass das Projekt scheitern werde, wenn der Pfusch mit der Pipeline zwischen Pumpstation und Hochreservoir nicht beendet würde.

Insgesamt war Euler nur sehr kurz mit dem Sanssouci-Projekt betraut. Von dem ersten Brief Eulers vom 21. September 1749, adressiert an Maupertuis, den Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften, bis zur Mitteilung seiner Analyse am 17. Oktober 1749 in einem Brief an den König vergingen nur knapp vier Wochen. Das erklärt, warum sein Name in der Baugeschichte, die den Pfusch ja über Jahrzehnte hinweg beschreibt, gar nicht erwähnt wird. Aber Eulers Analyse traf den wunden Punkt der ganzen Angelegenheit. Die nötige Stärke der Bleirohre müsse aus Experimenten bestimmt werden, forderte er. Er ging davon aus, dass nach dem ersten Platzen der Holzrohre Bleirohre verwendet würden, aber die Praktiker ignorierten dies und benutzten auch noch lange danach Holzrohre für die Pipeline. Über die kritische Frage des Drucks schrieb Euler: „Ich habe Berechnungen über die ersten Versuche angestellt, bei denen die Holzrohre geplatzt sind, sobald das Wasser auf eine Höhe von 70 Fuß angehoben wurde. Ich finde, dass die Rohre tatsächlich einem Druck ausgesetzt waren, der einer 300 Fuß hohen Wassersäule entspricht. Das ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass die Maschine noch weit von einem perfekten Zustand entfernt ist“. Was die Dimensionierung der Rohre angeht, fand Euler, „dass man unbedingt größere Leitungsrohre verwenden muss“. Auch dieser Rat wurde ignoriert. Als man nach weiteren Fehlschlägen endlich Bleirohre einsetzte, hatten diese einen viel zu geringem Innendurchmesser.

Eulers Theorie der Rohrströmung, die er aufgrund seiner Beschäftigung mit der „Maschine von Sanssouci“ entwickelte, war das Vorspiel zu der Formulierung der allgemeinen Bewegungsgleichungen für ideale (das heißt reibungsfreie) Fluide. Diese „Eulerschen Gleichungen“ wurden erst im 19. Jahrhundert durch Einbeziehung der Reibung zu den „Navier-Stokes-Gleichungen“ erweitert. Sie bilden das Fundament der gesamten Strömungslehre. Dass Eulers Theorie der Rohrströmung einem Wasserbauingenieur unserer Tage nicht praxisgerecht erscheint, da der Reibungseinfluss je nach Anordnung erheblich sein kann, kann aber nicht als Ausrede für den Pfusch von Sanssouci herhalten. Das Verständnis der Rohrreibung bereitete noch im zwanzigsten Jahrhundert erhebliche Probleme. Erst in unserer Zeit sind auch solche Fragen theoretisch lösbar, wobei jedoch praktisch verwendbare Resultate solcher Theorien meist nur durch den Einsatz von Computern gewonnen werden können.

Warum wurde Euler zum Sündenbock für das Fiasko von Sanssouci? Als Friedrich II. Euler 1740 nach Berlin berief, herrschten hochgesteckte Erwartungen am Hof des Preußenkönigs, denn die Akademie sollte endlich zu dem werden, was sie schon bei ihrer Gründung 1700 hätte sein sollen: eine den Pariser und Londoner Gelehrtenvereinigungen ebenbürtige Akademie. Aber es dauerte nicht lange bis zu den ersten Meinungsverschiedenheiten zwischen Euler und dem König. Euler hoffte auf die Präsidentschaft der Akademie, aber Friedrich fand ihn dafür nicht schöngeistig genug. Nach Maupertuis’ Tod im Jahr 1759 übernahm er lieber selbst die Leitung der Akademie, als sie Euler anzuvertrauen. 1766 kehrte Euler enttäuscht nach St. Petersburg zurück, wo er schon vor 1740 gewirkt hatte. Als der König in seinem Brief an Voltaire Euler die Schuld für das Fiasko von Sanssouci gab, lag der Vorfall mit den geplatzten Rohren, den Euler analysiert hatte, schon fast 30 Jahre zurück. Nur im Abstand von mehr als zweihundert Jahren erscheint die Äußerung des Königs authentisch. Aber sein Zerwürfnis mit Euler und sein mangelndes Verständnis von Mathematik und Technik machen Friedrich, den man immer noch „der Große“ nennt, zu einem ungeeigneten Gewährsmann für die Geschichte der mißratenen Wasserkunst von Sanssouci. Traurig ist nur, dass sich bis heute viele seinem Urteil und Spott anschlossen, obwohl das Eulersche Werk zur Genüge die Verleumdung Lügen straft, er sei ein praxisferner Theoretiker gewesen.

Michael Eckert, Deutsches Museum München

 

Referenzen:

[1] Eine ausführliche Darstellung mit den entsprechenden Literaturangaben findet sich in Michael Eckert: Euler and the Fountains of Sanssouci. Archive for History of Exact Sciences, 56, 2002, 451-468. Eine Analyse der Eulerschen Arbeit mit Blick auf seine kurz darauf erarbeitete allgemeine Theorie der idealen Fluide erscheint in Michael Eckert: Water-art problems at Sanssouci—Euler’s involvement in practical hydrodynamics on the eve of ideal flow theory, Physica D (2007), doi:10.1016/j.physd.2007.09.006.

 

[Veröffentlicht: Juli 2008]