Physiker als Innovatoren in der Industrie

Bernhard Braunecker

 

Patente als Leistungsindikatoren

Die Schweiz rangierte mit 6742 Patentanmeldungen im Jahre 2010 bereits an fünfter Stelle hinter den wirtschaftlich bedeutend grösseren Ländern USA, Deutschland, Japan und Frankreich. Damit lag die Schweiz im Hinblick auf die Grösse der Bevölkerung 5 bis 10 mal über diesen Ländern. Bezieht man die Anmeldungen noch auf die von Staat und Wirtschaft getätigten Forschungsausgaben pro Einwohner, die in der Schweiz gleich gross waren wie bei den Spitzenreitern USA und Schweden, kommt man zu mehr als sechsmal so vielen Patentanmeldungen pro Kopf als bei beiden Vergleichsländern *).

Die genannten Zahlen belegen, dass die Entwickler an den Hochschulen und in der Wirtschaft, die ungefähr zwei Drittel der Ausgaben tätigt, die nötigen Freiräume vorfinden, ihren Ideenreichtum umzusetzen. Wir wollen im Folgenden über einige Erfahrungen aus dem industriellen Umfeld berichten, die jungen Physikerinnen und Physikern nach ihrem Wechsel von der Hochschule in die Industrie helfen sollen, den Stellenwert von Patenten in der Industrie besser zu verstehen.

Notwendigkeit von Patentanmeldungen

Anders als an der Hochschule, wo die Innovation und deren Publikation im Mittelpunkt der Aktivitäten stehen, ist in der Industrie die Umsetzung von Ideen in Produkte von primärem Interesse. Als Gründe einer aktiven Patentstrategie einer Firma sind zu nennen:

  • Der Schutz der eigenen Arbeit: Man sollte eine Anmeldung forcieren, wenn anzunehmen ist, dass die Idee wegen ihrer Attraktivität gerade auch von der Konkurrenz bearbeitet wird. Ist die andere Seite schneller, könnte das unter Umständen bedeuten, dass später zum ungünstigsten Zeitpunkt auf alternative Lösungen ausgewichen werden muss.
  • Die Abschirmung der Konkurrenz: Wird das versäumt, kann es sehr teuer werden, wenn durch nachgewiesene Patentverletzungen nicht nur Bussezahlungen zu leisten sind, sondern dem Kläger auch dessen Umsatzausfälle der letzten Jahre kompensiert werden müssen.
  • Als Mass der Innovationskraft: Ein gutgefülltes Patentportfolio wird von der eigenen Firma, aber auch von Aktionären und potentiellen Investoren als Mass der Wettbewerbskraft und somit der Zukunftschancen hoch bewertet.
  • Als wichtige Einnahmequelle: Durch die Vergabe von Patentlizenzen lässt sich Einkommen generieren. Viele High-Tech-Firmen praktizieren die Vermarktung, wenn das der Idee inneliegende Anwendungspotential durch den Eigenbedarf nicht ausgeschöpft werden kann, hingegen woanders reges Interesse besteht, ohne dass man sich ins Gehege kommt.
  • Und mit Patenten lässt sich handeln. Der gegenseitige Tausch von Patentrechten unter Firmen wird de facto praktiziert. Es gibt so eine Art "Patentbörse".

Patentkriterien und -recherchen

Wann ist eine Idee patentierbar? Es müssen drei Kriterien erfüllt sein: die Idee muss neu, innovativ, das heisst von erfinderischer Höhe und applizierbar sein. Bei den von Physikern formulierten Patentanträgen ist in der Regel nur die Neuheit eine kritische Grösse, und hierzu bedarf es einer eingehenden Recherche in Patentdatenbanken, um zur nötigen Gewissheit zu gelangen. Da kann es schon passieren, dass man bei einem ersten Sichten auf Hunderte von Patentschriften stösst, die scheinbar schon alles vor einem gelöst haben. In diesem Falle empfiehlt sich dann folgendes Vorgehen: Man lädt einen Datenbankexperten vom Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum für einen Tag zu sich ein und geht mit ihm und einer Gruppe erfahrener Kollegen in Klausur. Wichtigstes Requisit, eine Projektionsleinwand. Der Experte wendet nun auf die Datenmenge die Filterkriterien an, die von der Gruppe laufend vorgeschlagen werden. Man sieht dann relativ schnell, welche Fremdpublikationen von Bedeutung sind. Am Ende verbleiben dann etwa 10-20 Schriften, die intern bearbeitet werden müssen.

Die Rolle von Patentanwälten

In der Praxis werden beim Vorliegen einer patentwürdigen Idee vom Erfinder in einem ersten Schritt der Stand der Technik und die Vorzüge seiner Idee in ihm vertrauter wissenschaftlich-technischer Weise niedergeschrieben und einem für die Firma zuständigen Patentanwalt zugeleitet. Dessen Aufgabe ist, die Idee hinsichtlich der drei Kriterien vorab zu bewerten und bei positiver Beurteilung sie patentjuristisch so zu formulieren, dass nach erfolgter Offenlegung nach 18 Monaten der eigentliche Prüfprozess für die Patenterteilung zügig vorangetrieben werden kann. Dieser kann auf Antrag allerdings schon früher eingeleitet werden. Um der Konkurrenz nach der Offenlegung die Beurteilung zu erschweren, wird traditionell in Patentschriften der Sachverhalt in einer antiquiert wirkenden Sprache mehr verklausuliert als präzisiert; für Wissenschaftler eine gewöhnungsbedürftige Art der Tatsachenbeschreibung.

Kontakte zu Patentämtern

Jede Anmeldung wird anhand der angesprochenen Kriterien von nationalen und/oder internationalen Patentbehörden geprüft. Während in USA Patente relativ leicht erteilt werden, -es genügt, wenn einzelne Beispiele die Realisierbarkeit belegen-, prüfen die europäischen Patentämter ungleich kritischer. Hier müssen die Experten überzeugt werden, dass das dem zu schützenden Verfahren oder der Vorrichtung zugrunde liegende physikalische Prinzip die Umsetzung der genannten Patentansprüche auch ermöglicht. Wurde der Sachverhalt nicht klar genug kommuniziert, kann das zu Rücksprachen und Verzögerungen führen. Es ist deshalb generell ratsam, dass man in regelmässigen Zeitabständen die Experten der nationalen oder europäischen Prüfbehörde in München zu einem Laborbesuch einlädt und ihnen das technologische Umfeld zeigt, aus dem die Patentideen kommen und experimentell verifiziert werden. Die Prüfbehörden betrachteten dies bislang als hoch geschätzte Weiterbildung ihrer Experten, die aus erster Hand nicht nur Antworten auf ihre Fachfragen bekamen, sondern auch ein Gefühl entwickeln konnten, was an Innovation demnächst auf sie zukommen könnte. Das gewonnene Vertrauensverhältnis machte sich dann bemerkbar, dass Patentanmeldungen deutlich weniger Rückfragen auslösten und das ganze Verfahren beschleunigt ablief.

Patentcharakter

Wie wird nun patentiert? Als Physiker kann man innerhalb einer Firma sowohl grundlagen- als auch produktnah in F&E tätig sein. Allerdings ist der Patentcharakter je nach Einsatzgebiet verschieden: Im Bereich der Grundlagenforschung und -entwicklung patentiert man mehr zurückhaltend und auch nur, wenn sich eine breit applizierbare Technologie abzeichnet. Es ist dann üblich, das Grosspatent defensiv anzulegen: Man schützt primär den eigenen Anwendungsbereich (Field of Use), bemüht sich aber gleichzeitig, die Patentidee ausserhalb dieses Schutzgebietes allgemein bekannt zu machen und, falls möglich, sie unter Erhebung von Lizenzgebühren zu vermarkten.

Dies ist nun gänzlich anders, je produktnäher die Idee ist. Dann baut man um das eigene Produkt einen Palisadenring vieler kleiner Patente auf. Als Regel gilt, all das zu schützen, was für den Kunden direkt von Nutzen und somit unmittelbar vermarktbar ist, wie zum Beispiel eine simple, aber pfiffige Gestaltung der Benutzeroberfläche.

Im noch verbleibenden Bereich der Prozess- oder Herstellungstechnologie wird meist wenig patentiert. Zum einen möchte man sein sensibles Fertigungswissen nicht preisgeben, zum anderen ist die Gefahr, dass man eine Schutzrechtverletzung begeht, relativ gering. Ein produziertes Instrument kann heutzutage jeder öffnen und kopieren; dagegen ist es schwierig, die Fertigungstoleranzen zu erfahren, und die sollte man nicht unnötig offenlegen.

Informationsextraktion

Die Überwachung der Flut an offengelegten und bereits erteilten Patenten liefert nicht nur technische Details, sondern auch latent verborgene Informationen über die zukünftige strategische Ausrichtung der Patentinhaber. Die Extraktion dieser Information erlaubt die eigene Position absolut, aber auch relativ zur Konkurrenz, abzuschätzen. Zur Analyse eignen sich die Methoden der "nearest neighbour interactions".

Das sei an einem einfachen Beispiel erläutert:

  • Die Vermessung mit Laserlicht (Lidar) erwies sich vor Jahren als geeignete Basistechnologie für Applikationen in den Märkten Verkehr, Industrie, Geodäsie, Bau und Architektur, wobei die Übergänge fliessend waren. Es sei nun im Beispiel der Gesamtmarkt zum Zeitpunkt t0 von den drei Firmen Rot/Grün/Blau gemäß Tabelle 1 aufgeteilt.
  • Nun leite man aus der Patentüberwachung ab, dass die drei Firmen verschiedene F&E Strategien fahren, was durch eine Look-up-Table (LUT) beschrieben werde, wobei A etwas stärker gewichtet sei als B.
  • Startet man also in der folgenden Matrix zu Zeit t0 mit der beobachteten Startbelegung in der untersten Reihe, fügt zyklisch als 10. Element das erste hinzu, den Übergang Architektur zu Verkehr beschreibend, und belegt die darüberliegende Zeile gemäss der LUT, ergeben sich als Funktion der Zeit (Ordinate) verschiedene Konfigurationen im Anwendungsspektrum (Abszisse).

 

Man sieht im Beispiel, dass das die Innovation vernachlässigende Blau trotz guter Anfangsposition (in der Mitte bei Applikation 4 & 5) mit der Zeit an Präsenz verliert und seine Strategie gemäss LUT dringend ändern sollte. Rot schafft es, einige starke Monopolstellungen aufzubauen, wo es sich eine Hochpreispolitik erlauben kann, während Grün mehr flächendeckend agieren wird. Unangenehm für alle drei Firmen sind die am rechten Rand sich abzeichnenden Fluktuationen, da hier ein harter Preiskampf zu erwarten ist. Auch dort müssten die Firmen ihre Aktivitäten überdenken.

Innovationsstrategie

Was sich hier als spielerische Analyse präsentiert, hat einen realen Kern, denn Firmenstrategen orientieren sich stark an der unmittelbaren Konkurrenz und können auch nur kurz- bis mittelfristig planen. In der Praxis ergänzt man die Information aus den Patentaktivitäten, deren Ursachen bis zu 3 Jahre zurückliegen können, durch aktuelle Marktbeobachtungen und mittelfristig gültige Auswertungen von Kundenkontakten und Messebesuchen.

Das so entstandene Datenmaterial kann nun mit den wissenschaftlichen Methoden der Zellulären Automaten professionell analysiert werden, um innere Strukturen und Abhängigkeiten zu erfassen. Man betritt das Gebiet der Econo-Physik, in dem erprobte Konzepte der Physik korrelierter Systeme die Aussagekraft bedeutend erhöhen könnten. Vielleicht wiederholt sich dann, was generell die Physik auszeichnet: Erst wenn grosse empirische Datensätze vorliegen, greifen die theoretischen Ansätze und führen zu neuen Disziplinen.

 

*) Gerhard Schwarz [Think-Tank Avenir Suisse], NZZ vom 27.10.2012, p.29

 

 

[Veröffentlicht: März 2013]