Im ersten Beitrag berichten wir über eine Begegnung der besonderen Art von Albert Einstein, der sowohl als Physiker, Philosoph, aber auch als Techniker brillierte. Nachdem die Hektik des Einstein-Jahres abgeklungen ist, kann man sich ihm wieder ungezwungen nähern und bislang unbekannte Tatsachen entdecken. Im Folgenden werden bis anhin vermutlich nicht erkannte Parallelen zwischen Albert Einstein und Heinrich Wild geschildert. Wild gilt als der Pionier der modernen Vermessungstechnik und gründete 1921 die Wild Heerbrugg, die Vorläuferin der heutigen Leica Geosystems AG. Einstein und Wild haben unsere Kenntnisse über die Vermessung der Erde entscheidend beeinflusst, und man fragt sich, ob aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten beide Pioniere eventuell sogar im Dialog standen?

Dem Autor Fritz Staudacher sind einige dieser Parallelen schon vor längerer Zeit als Leiter der Kommunikationsabteilung der Leica Geosystems AG in Heerbrugg aufgefallen. Er hatte aber erst nach seiner Pensionierung Zeit, ihnen nachzugehen und in einem Buchprojekt zusammenzufassen [1]. Sein und unser spezieller Dank gilt der Bibliothek der ETHZ für die Überlassung eines sensationellen Fotos.

Bernhard Braunecker, SPG-Sekretär

 

Neu entdeckte Wild-Einstein-Relation

Albert Einstein und Heinrich Wild, Bundesexperten III. Klasse

Nicht nur beide Relativitäts- und wesentliche Teile der Quantentheorien nahmen vor einem Jahrhundert in der Schweizer Bundeshauptstadt Bern ihren weltweiten Anfang, sondern auch die modernen Technologien der Erd- und Landesvermessung. Der als Bundesexperte III. Klasse in der Eidgenössischen Landestopographie tätige Heinrich Wild (1877-1951) verbesserte mit seinen neuartigen optisch-mechanischen Instrumentenkonstruktionen die Vermessung und Kartierung der Erde. Der zur gleichen Zeit im Eidgenössischen Patentamt ebenfalls als Bundesexperte III. Klasse tätige Albert Einstein (1879-1955) schuf mit seinen Theorien die Grundlagen für die heutigen Laser-, GPS- und Digitalsensor-Vermessungstechnologien.

Einstein und Wild schrieben damit völlig unabhängig voneinander vor einem Jahrhundert ein zentrales Kapitel der Vermessungsgeschichte neu. Doch so unglaublich es klingen mag: trotz zahlreicher verblüffender biografischer Parallelen – einschliesslich gleicher Wohnorte und Arbeitswege – kannten sich gemäss den bisher bekannten Dokumenten diese beiden Koryphäen ihrer Gebiete anscheinend nicht einmal. Oder vielleicht doch?

Gleichzeitig an Zürcher Hochschulen, in Bern und in Deutschland

Wie Albert Einstein hatte sein zwei Jahre älterer Zeitgenosse Heinrich Wild die Schule vorzeitig verlassen und sich wie Einstein im Jahre 1896 an einer Zürcher Technischen Hochschule zum Studium eingeschrieben; wie Einstein arbeitete Wild vor einem Jahrhundert als Bundesbeamter III. Klasse in Berner Amtsstuben und entwickelte hier bahnbrechende neue Ideen; wie Einstein heiratete Wild als 23jähriger in Bern, wohnte mit seiner Familie zur selben Zeit wie Einstein in der Berner Thunstrasse und verliess sieben Jahre später, genau wie der Patentbeamte Einstein, die Schweizer Bundeshauptstadt als genau Dreissigjähriger; folgte wie Einstein schon vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges einem beruflichen Ruf nach Deutschland und lebte auch während der Hungerzeit des eisigen „Kohlrübenwinters“ und dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches dort; wie beim Nobelpreisträger Albert Einstein wurden die Leistungen Heinrich Wilds im Jahr 1930 von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich mit der Auszeichnung zum Doktor honoris causa gewürdigt.

Albert Einstein: Physiker und Kreiselkompass-Konstrukteur

Immer wieder beeinflussten Landvermesser und Mathematiker mit ihrem Wissen Einsteins Theorien. Grossen Einfluss auf Einsteins Gedankenwelt und speziell auf die Relativitätstheorie hatten bereits in Zürich und Bern die Arbeiten von Henri Poincaré. Dieser Physiker und Mathematiker war Direktor des weltbekannten Büros der Länge in Sèvres, dessen Urmeter auf Meridianberechnungen der französischen Geometer beruhte. Die mathematische Formulierung der Relativitätstheorie gelang Einstein durch Verwendung von Ansätzen aus der Nicht-Euklidschen Theorie gekrümmter Räume des Mathematikers und Landvermessers Carl Friedrich Gauss. Doch reichen Einsteins Beziehungen zur Vermessung weit über die theoretischen Aufgaben des Universitäts-Physikers hinaus. Als Instrumentenkonstrukteur entwickelte er ein Kreiselkompassgerät, das auf seinen Namen patentiert war und in Kiel in so grosser Anzahl gefertigt wurde, dass es ihm beträchtliche Einnahmen bescherte. Einstein war so fasziniert von der Entwicklung, dass er nicht nur 1915 die Arbeiten an der Allgemeinen Relativitätstheorie unterbrach, sondern auch das Funktionsprinzip des Kreisels als Modell seiner atomaren Beschreibung des Permanentmagnetismus benutzte [2].

Heinrich Wild: Vermessungsgeräte-Konstrukteur und Unternehmer

Mit seinen wesentlich verkleinerten und verbesserten Vermessungsgeräten war Heinrich Wild nicht nur der geniale Erfinder technischer Innovationen, sondern auch der Generator wirtschaftlicher Organisationen. Wie niemand sonst gestaltete und prägte er alle drei bedeutendsten Unternehmen des Vermessungs- und Photogrammetrie-Gerätebaus des 20. Jahrhunderts und damit die Welt der Erdvermesser bis hin zur Satellitentechnik. So baute er bereits 1908 in Deutschland bei Zeiss in Jena die Abteilung Geodäsie auf, gründete 1921 in der Schweiz mit zwei Partnern sein eigenes Unternehmen, die heutige Leica Geosystems, und initiierte später auch noch bei der Firma Kern in Aarau den Photogrammetriegerätebau, sowie eine neue Generation geodätischer Instrumente. In ihrem Nachruf bezeichnete eine deutsche Fachzeitschrift den Schweizer Heinrich Wild als den „bedeutendsten Konstrukteur geodätischer Instrumente, der jemals gelebt hat“ [3].

Weltweite Bedeutung und Marktführerschaft

Mit ihren Landeskarten und Gebirgsdarstellungen bis hin zum Mt. Everest geniesst die Schweizer Kartographie einen international erstklassigen Ruf. In der Fachwelt behaupten seit Wilds Erfindungen Schweizer Vermessungsinstrumente ein Hochleistungs-Image und die internationale Marktführerschaft. Während diese rein optisch-mechanisch realisierten Erfindungen die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts prägten, waren es ab der zweiten Jahrhunderthälfte die von Physikern auf der Basis von Einsteins Photoeffekt entwickelten und in Wilds Basiskonstruktionen integrierten Laser- und Digitalsensor-Technologien, sowie die mit relativistischen Korrekturen versehenen GPS-Systeme [4].

Erst jetzt wurde aufgrund meiner Recherchen im ETH-Archiv eine Fotografie entdeckt, die diese beiden Initianten der Entwicklung der modernen Vermessungstechnologien auf einem Bild dokumentiert. Diese bis anhin auch Einstein-Connaisseurs unbekannte Aufnahme zeigt die beiden Schweizer inmitten anderer Laureaten beim Festakt der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich am 7. November 1930 als frisch gewürdigte ETH-Ehrendoktoren. Diese Fotografie illustriert den Kulminationspunkt einer verblüffenden dreissigjährigen Parallelität zwischen Einstein und Wild. Leider nicht zu finden war bis jetzt eine von Heinrich Wild während der gemeinsamen Berner Jahre auf dem Amt für geistiges Eigentum eingereichte Patentschrift, die von Albert Einstein geprüft worden wäre.

Es ist schon beachtlich, was vor einem Jahrhundert in Bern geschah: Die Weiterentwicklungen der Erkenntnisse Einsteins und der Schöpfungen Heinrich Wilds verbesserten unser Wissen und unsere Orientierung auf der Erde, aber auch auf dem Mond und im Weltraum. Die grössten Gipfel der Kontinente tragen ebenso das Mass der aus ihren Theorien und Konstruktionen entwickelten Instrumente, wie die bedeutendsten Bauwerke des 20. Jahrhunderts und zahlreiche Landeskarten rund um den Globus.

Fritz Staudacher

 

Einstein, Ammann und Wild vor 77 Jahren

Dieses neu entdeckte Bild zeigt im Ausschnitt den Nobelpreisträger Albert Einstein als 51-jährigen, zusammen mit weiteren ETH-Ehrendoktoren des Jahres 1930. Es wurde am 7. November 1930 im Stadttheater Zürich anlässlich des Festaktes zum 75-jährigen Jubiläum der Eidgenössischen Technischen Hochschule aufgenommen. Das Kuvert eines Kinderbriefes an Einstein war einmal mit „Chefkonstrukteur des Universums“ angeschrieben: auf diesem Bildausschnitt ist der Nobelpreisträger zusammen mit dem Chefkonstrukteur der Vermessungswelt (Wild) und dem Chefkonstrukteur des Brückenbaus (Ammann) zu sehen. Zwischen Albert Einstein (links unten) und Heinrich Wild (rechts oben) bildet in der ersten Reihe (dritter von rechts) der Konstrukteur der New Yorker George-Washington-Bridge Othmar Ammann gewissermassen visuell einen „Brückenpfeiler“. Es ist das einzige gemeinsame Bild dieser weltbekannten Schweizer Einstein, Ammann und Wild – ein historisches Zeugnis dreier grosser internationaler „Chefkonstrukteure“.

 

 

Referenzen:

[1] Fritz Staudacher, "Einsteins Wild", Unveröffentlichtes Manuskript 2006
[2] Peter Galison, Harvard University, “Jubiläumsfeier 150 Jahre ETH Zürich“, Zürich, 21. April 2005
[3] Edwin Berchtold, Allgemeine Vermessungs-Nachrichten AVN 1953, Nr.3 (17578)
[4] GPS: Relativistische Effekte
GPS Satelliten bewegen sich mit v = 3’880 m/s in einem Orbit mit Radius rS = 26’000 km.
Gemäss Spezieller Relativitätstheorie (SR) führt dies zu einer Zeitkorrektur Δt/Δt' =√(1 - v2/c2) = 1 - 0.835·10-10
Gemäss Allgemeiner Relativitätstheorie (AR) zu Δt/Δt' = 1+ ΔU/c2 = 1 + 5.28·10-10;
wobei ΔU=GM*(1/rE -1/rS) mit rS = 26’000 km; rE = 6’378 km und GM = g*ME = 3.986·1014 m3/s2 ist mit g = 6.67·10-11 m3/kg/s2 und ME = 6·1024 kg.

Die Uhr geht somit im Tag gemäss SR um 0.835·10-10 · 24 · 3600 s = 7.2 µs nach, bzw. gemäss AR um 5.28·10-10 · 24 · 3600 s = 45.9 µs vor. In 38.7 µs fliegen die Satelliten 15 cm weit, und die Erde dreht sich am Äquator um 17 mm. Ohne Einsteins Korrekturen wäre daher das System innerhalb von wenigen Tagen unbrauchbar!

 

[Veröffentlicht: April 2008]

 

PS: Wer glaubt, auf diesem Bild weitere illustre Persönlichkeiten entdeckt zu haben, möge sich bitte beim Vorstand melden.