Rheticus – der erste Kopernikaner

Philipp Schöbi

 

Ein Mann aus dem vorarlbergischen Feldkirch hat die Welt verändert: Georg Joachim Rheticus (1514 – 1574). Wäre er nicht gewesen, hätte Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) sein Hauptwerk über das neue, heliozentrische Weltbild nie vollendet und zur Druckreife gebracht. Dessen Hauptwerk "De Revolutionibus" wäre der Welt wohl verborgen geblieben. Nachdem 2009, im Jahr der Astronomie, vor allem der neuen Ein- und Aussichten Keplers und Galileis im Jahre 1609 gedacht wurde, sollen hier auch noch einige jener Wissenschaftler gewürdigt werden, welche schon 70 Jahre früher den eigentlichen Grundstein legten für das neue Bild des Kosmos. Spuren dieser geistesgeschichtlichen Revolution führen unweigerlich nach Feldkirch (A).

 

Kindheit und Jugend in Feldkirch

Georg Joachim wurde am 16. Februar 1514 in Feldkirch geboren. Seine Eltern waren Fremde italienischer Herkunft: sein Vater Georg Iserin(g) (um 1480 – 1528) stammte vermutlich aus dem italienischen Mazzo im oberen Veltlin und seine mit Reichtümern gesegnete Mutter Thomasina de Porris aus lombardischem Adel. Noch im selben Jahr, exakt an seinem Namenstag "Sant Görgen" am 23. April 1514, wurden Georg Iserin mitsamt Familie zu Bürgern und er zum Stadtarzt von Feldkirch. Er war bekannt als ein hochgebildeter, wissbegieriger, vielseitiger und weitgereister Bücherfreund, der auch als Astrologe und Wahrsager fungierte. Daneben diente er in den folgenden Jahren aber auch immer wieder als Dolmetscher im kaiserlichen Heer in der Lombardei. So kam es denn, dass Georg Joachim bereits in jungen Jahren mit seiner Familie weit herum kam und auf diesen Reisen im Vater seinen ersten Lehrer fand. In einem Brief vom 13. August 1542 an Heinrich Widnauer, den damaligen Stadtammann von Feldkirch, betonte er nämlich ausdrücklich, dass er die ersten Kenntnisse der Zahlen und die Anfänge höherer Bildung seinem Vater Georg Iserin verdanke und dass er das Handwerkszeug für die Wissenschaften in Feldkirch erhalten habe. Insbesondere hatte er die damals weit herum berühmte und hoch angesehene Feldkircher Lateinschule besucht, eine seit 1399 nachweisbare Humanistenschule, die sich beim damaligen Schul-Tor, dem späteren Bludenzer Tor befand.

Zäsur seines Lebens – damnatio memoriae

Am 3. Januar 1528 wurde Georg Joachims Vater Georg Iserin vom Feldkircher Apotheker (und Konkurrenten) Hans Zoller beim Stadtrat verschiedener Vergehen beschuldigt und verklagt, insbesondere der Hexerei und mit dem Teufel im Bunde zu stehen. Wenn die massgeblichen Gerichtsakten seit dem 17. Jahrhundert auch als verschwunden gelten, liess sich aus noch vorhandenen Akten doch rekonstruieren, dass wohl Konkurrenzneid sowie Intrigen Zollers, der Familie Tratzberger und diverser anderer Einwohner Feldkirchs zu dieser Anklage geführt haben. Allein aufgrund dessen, was Dr. Iserin alles "zugegeben" haben soll, muss davon ausgegangen werden, dass er während des Prozesses "peinlich befragt", das heisst der Folter ausgesetzt worden war. Das städtische Malefizgericht von Feldkirch, unter dem Vorsitz des damaligen Stadtammanns Lazarus Metzler, verurteilte Georg Iserin nach kurzem Prozess zum Tod durch das Schwert. Seine Frau Thomasina de Porris soll in ihrer Verzweiflung noch viel Geld geboten haben, um ihn vor diesem Schicksal zu bewahren. Vergeblich. Am 6. Februar 1528, kurz vor dem 14. Geburtstag seines Sohnes Georg Joachim, wurde Dr. Georg Iserin, der "Hexenmeister", in Feldkirch öffentlich und schmachvoll hingerichtet. Damit verfiel er einer "damnatio memoriae", das heisst das Andenken an seine Person wurde ausgelöscht. In der berühmten Prugger-Chronik von Feldkirch (1685) wurden Dr. Iserin und der Prozess gegen ihn nicht einmal erwähnt. Seiner Frau blieb gar nichts anderes übrig, als wieder ihren Mädchennamen "de Porris" anzunehmen und auf ihre unmündigen Kinder Georg Joachim und Magdalena zu übertragen. So sollten letztere fortan das Wappen und den Namen "de Porris" ihrer Mutter tragen, bisweilen auch in seiner eingedeutschten Form "von Lauchen".

Dr. Georg Iserin = Doktor Faust ?

Wie verschiedene Quellen übereinstimmend feststellten, war Dr. Georg Iserin ein Büchernarr und ein Mensch, der auch das "Undenkbare" zu denken wagte. In der Anklage gegen ihn hiess es insbesondere, dass er alles tat, um zu gewissen Büchern zu kommen und dass er mehr als einmal Bücher ausgeliehen und nicht mehr zurückgegeben oder nicht bezahlt hätte. Sein immenses Allgemeinwissen und sein niemals zu stillender Wissensdurst in Verbindung mit gewissen ungewohnten oder okkulten Praktiken brachten ihm schon zu Lebzeiten und weit herum den Ruf eines Hexenmeisters ein, eines Menschen, der mit dem Teufel im Bunde stehe. So rankten sich denn auch bald Gerüchte und Legenden um seine Person, die sich letztendlich in Sagen niederschlugen. Wen mag es da verwundern, dass verschiedene Sagen die Urquelle zu Goethes Doktor Faust später in Feldkirch orteten und insbesondere in der Person des Dr. Georg Iserin (siehe Kasten). Gerne werden sie dabei mit dem Toggenburgerhaus in Verbindung gebracht, das gleich neben der Johanniterkirche steht und mit selbiger durch einen Erker verbunden ist.

 

Doktor Fustes in Feldkirch (Sage)

Auf seinen Reisen kam der berüchtigte Zauberer, der Fustes, auch einmal nach Feldkirch. Dort sah man ums Zunachten einen unbekannten Mann seiner Herberge zueilen. Am ändern Morgen fand man den Doktor Fustes erwürgt im Blute liegend. Jener schwarze Mann war der Teufel gewesen, der dem frevelhaften Leben des Schwarzkünstlers ein solches Ende bereitet hatte. Als man dann das Zimmer von den Blutflecken reinigen wollte, kam der rote Fleck immer wieder zum Vorschein, ob man den Boden nun wusch oder malte.

Andere erzählen, dass es im jetzigen Vereinshaus neben der Johanniterkirche war, dass Doktor Faust übernachtete. Das Estrichfenster, durch welches ihn der Teufel herausriss, muss seitdem eine Öffnung haben. Immer sind die Scheiben daran zerschlagen. Wenn der Glaser sie ergänzt, so hält das Fenster nicht zu, bis die Scheiben abermals springen.

 

Ausbildung in Zürich

Nach dem Tod seines Vaters, 1528, besuchte Georg Joachim de Porris als 14-jähriger die Frauenmünsterschule in Zürich, eine Lateinschule, wo er in Oswald Mykonius (1488 – 1552) einen tüchtigen Lehrer fand und in seinem Mitschüler Conrad Gesner (1516 – 1565), dem nachmalig berühmten Arzt, Naturforscher und Altphilologen, einen gelehrten Freund, mit dem er sein ganzes Leben lang in enger Verbindung blieb. In dieser seiner Studentenzeit nahm er den humanistischen Beinamen "Rheticus" an und nannte sich künftig meist Georg Joachim Rheticus, als Zeichen seiner Feldkircher Herkunft.

Schicksalhafte Begegnung

Im Jahre 1532 wurde eine persönliche Begegnung mit dem umstrittenen Arzt, Alchemisten und Mystiker Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493 – 1541), für den jugendlichen Rheticus zum unvergesslichen Erlebnis, das seinen späteren Lebensweg noch entscheidend prägen sollte. Das Zusammentreffen dürfte im Appenzellischen stattgefunden haben.

Eintrag im Beichtregister

Als im Jahre 1532, im Zeichen der einsetzenden Gegenreformation, alle Einwohner von Feldkirch die Beichte ablegen mussten, um damit ihre Treue zur Katholischen Kirche zu bezeugen (wer ohne überzeugenden Grund der Beichte fernblieb, wurde der Stadt verwiesen), fand sich auf dem Feldkircher Beichtregister, einer Liste der Beichtabsolventen, auch ein gewisser "Jörg Jocham doctor Ysering Son", also unser damals 18-jähriger Georg Joachim Rheticus. Diese Liste, welche sich heute im Stadtarchiv Feldkirch befindet, ist überhaupt das einzige erhalten gebliebene schriftliche und direkt aus Feldkirch stammende, "amtliche" Dokument von Rheticus. Seine hierin bezeugte katholische Beichte ist umso erstaunlicher, als er noch im gleichen Jahre 1532 seine Studien in Wittenberg fortsetzen würde, an der Hochburg der Reformation.

 

Gang nach Wittenberg

Im Jahr 1528, als Rheticus' Vater enthauptet worden und er selbst als Student nach Zürich gegangen war, hatte sich der Lindauer Gelehrte Achilles Pirmin Gasser (1505 – 1577) in Feldkirch als Arzt niedergelassen und war bald danach zum Stadtarzt avanciert, also zum Nachfolger von Rheticus' Vater. Zwischen Gasser und dem neun Jahre jüngeren Rheticus entwickelte sich schon bald eine enge Freundschaft. Über Vermittlung Gassers erhielt Rheticus einen Studienplatz an der Universität in Wittenberg, wo auch Martin Luther (1483 – 1546) lehrte, und genoss dort die Protektion von Gassers Freund Philipp Melanchthon (1497 – 1560). Daselbst promovierte er 1536 zum Magister artium und wurde schon mit 22 Jahren Professor für Astronomie. In dieser Eigenschaft lernte er um 1538 die noch unveröffentlichte und nur bruchstückhaft in wenigen Handschriften kursierende Lehre des Kopernikus kennen, die er mit Freunden und Kollegen, zum Beispiel mit dem Nürnberger Mathematiker Johannes Schöner (1477 – 1547), besonders aber mit dem Feldkircher Stadtarzt Gasser eingehend diskutierte.

Lebensreise zu Kopernikus

Beflügelt durch Johannes Schöner und angespornt durch seinen Freund Gasser trat der erst 25-jährige Rheticus im Jahre 1539 seine verwegene Reise zum alternden Domherrn Nikolaus Kopernikus "am Ende der Welt" im fernen Frauenburg in Ostpreussen an (heute Frombork in Polen). Mit der sprudelnden Begeisterung eines jungen Forschers trug er sich diesem als erster und einziger Schüler an und lebte – mit Unterbrechungen – etwa zweieinhalb Jahre bei ihm. 1540 veröffentlichte Rheticus in Danzig die "Narratio Prima", einen selber verfassten Vorbericht über die neue Lehre von den Kreisbewegungen der Himmelskörper, der als offener Brief an Johannes Schöner gestaltet war. Es war dies die erste gedruckte Form der Kopernikanischen Theorie überhaupt. Der grosse Erfolg seiner "Narratio" (sie erlebte bereits 1541 ihre zweite Auflage in Basel) beflügelte den fast 70-jährigen Kopernikus, sein im stillen Kämmerlein entstandenes Hauptwerk "De Revolutionibus Orbium Coelestium" nun doch noch fertig zu stellen und endlich dessen Veröffentlichung zuzustimmen. Rheticus war es dann auch, der für die Publizierung besagten Hauptwerkes sorgte, das 1543 in Nürnberg zum Druck kam. Als Kopernikus noch im gleichen Jahr verstarb, wurde Rheticus zum massgeblichen Verkünder und Wegbereiter der neuen Lehre.

Luthers Spott

Diese neuen, dem Augenschein widersprechenden Ideen stiessen damals allerdings weitenteils auf Unverständnis, Ignoranz, Ablehnung oder gar Spott ¹. Am eindrücklichsten wird dies vielleicht belegt durch zwei Zitate des an sich fortschrittlichen Martin Luther, der zusammen mit Rheticus in Wittenberg lehrte. Gegen Kopernikus zog Luther wie folgt vom Leder: "Der Narr will mir die ganze Kunst der Astronomia umkehren. Aber die Heilige Schrift lehrt uns, dass Josua die Sonne stillstehen liess und nicht die Erde." Und direkt gegen seinen jungen, 29 jährigen Professorenkollegen Rheticus giftete Luther: "Aber es gehet itzunder so, wer do wil klug sein, der solle ihme nichts lassen gefallen, das andere achten; er muss ihme etwas eigen machen, sicut ille facit, qui totam astrologiam invertere vult." ["... wie jener tut, der die ganze Astrologie auf den Kopf stellen will."].

Ein Meilenstein der Mathematik

Nachdem sich nebst Luther auch Rheticus' bisheriger Förderer Philipp Melanchthon von ihm und seiner neuen Lehre abgewandt hatte, verliess er Wittenberg und folgte einem Ruf an die Universität Leipzig. Dort gab er unter anderem Buch 6 der "Elemente" des Euklid neu heraus (1549). Vor allem aber schuf er mit seinem Werk "Canon Doctrinae Triangulorum" (1551) die ersten trigonometrischen Tabellen über alle 6 Winkelfunktionen, die zudem erstmalig über die Seiten rechtwinkliger Dreiecke definiert wurden. Ein mathematischer Meilenstein, der eine solide rechnerische Grundlage lieferte für die Berechnungen künftiger Astronomen. Dies allein rechtfertigt schon seinen späteren Ruf als einer der bedeutendsten Mathematiker und Astronomen ² seiner Zeit.

Der Rhein als schönster Fluss

Rheticus lobte Obelisken wiederholt als die vollkommensten astronomischen Beobachtungsinstrumente. So schrieb er einmal: "Was der Rhein, der schönste Fluss, im Vergleich zum Meer ist, was die Erde im Vergleich zum Weltall ist, das sind die gnomonischen Instrumente im Vergleich zum Obelisken." Mehrere seiner Publikationen tragen denn auch auf der Titelseite das Bild eines Obelisken.

Zurück zu den Wurzeln

Nachdem Rheticus Leipzig 1551 wegen unüberbrückbarer Schulden und der Bezichtigung eines homosexuellen Deliktes verlassen musste, ging er nach Prag, um sein Medizinstudium abzuschliessen. 1554 liess er sich in Krakau nieder und blieb fortan als praktischer Arzt und Privatgelehrter tätig, interessierte sich aber auch zunehmend für magische Künste und die Astrologie. Damit folgte er den Spuren seines Vaters Georg Iserin. Einen Ruf 1553 nach Wien hatte er abgelehnt, ebenso wie er 1563 einem solchen nach Paris nicht folgen würde. Seine persönliche Begegnung als 18-jähriger mit Paracelsus bestimmte zunehmend sein Leben. Rheticus übersetzte dessen Werke, um sie in Polen und Ungarn bekannt zu machen. Der Schüler des Kopernikus wurde nunmehr zum Schüler eines zweiten grossen Revolutionärs der Naturwissenschaften, der damals – ebenso wie Kopernikus – von fast der gesamten Gelehrtenwelt abgelehnt wurde. Rheticus starb am Barbaratag 4. Dezember 1574, vergessen und unbemerkt von der wissenschaftlichen Gemeinde. Von seinem Antlitz fehlt uns zwar jede Vorstellung, nicht aber von seiner Bedeutung für die Wissenschaften, auf eine einfache Formel gebracht: Ohne Rheticus kein Kopernikus !

"Denn was nützen alle guten und schönen Taten ohne die Wahrheit ? Und wo soll man die Wahrheit finden, wenn das Streben nach den Wissenschaften und den Künsten fehlt, wenn man es verbannt, verdreht und zum Schlechten wendet ? Denn von feigen und eitlen Schlafmützen wird die Wahrheit weder gefunden noch hochgehalten. Gefunden und gewonnen wird die Wahrheit allein durch Arbeit und Fleiss und die Hingabe aller geistigen und materiellen Kräfte."

G. J. Rheticus

 

Literaturauswahl:

Karl Heinz Burmeister: Georg Joachim Rhetikus 1514-1574. Bd.I-III. Guido Pressler Verlag Wiesbaden, 1967/68.
Philipp Schöbi-Fink: Georg Joachim Rheticus aus Feldkirch und Jost Bürgi, ein Genie aus dem Toggenburg. Vierteljahresschrift der Rheticus-Gesellschaft, Jg. 30, 2008-4, S. 5-20.
Philipp Schöbi-Fink u.a.: Rheticus – Wegbereiter der Neuzeit. Eine Würdigung. Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 51, Feldkirch 2010. ISBN: 978-3-902601-26-1.

Bildnachweis:

Alle Bilder gemeinfrei oder mit freundlicher Genehmigung der Stadtbibliothek Feldkirch.

 

¹ Rheticus persönliche, 1542 in einem Brief geäusserte Überzeugung: "Alle Gelehrten werden sich meinem Urteil anschliessen, sobald die Bücher, die wir zur Zeit in Nürnberg unter der Presse haben, erschienen sind.", sollte sich somit als Trugschluss erweisen. Tatsächlich wurde das kopernikanische Weltbild von den meisten Astronomen (wie übrigens auch von Tycho Brahe) noch bis tief ins 17. Jahrhundert hinein abgelehnt oder bestenfalls als Hypothese bewertet.
² Wissenschaftsgeschichtlich können die Tafeln als durchaus bedeutender eingestuft werden als seine späteren, 1596 posthum unter dem Namen "Opus Palatinum de Triangulis" erschienenen Tafeln, die einfach nur kleinere Winkelschritte und Angaben auf mehr Stellen enthielten.


Philipp Schöbi stammt aus Altstätten (CH), ist promovierter Mathematiker und lebt heute mit seiner Familie in Feldkirch (AT). Nebst der Literatur interessiert ihn besonders auch die Wissenschaftsgeschichte.

 

 

[Veröffentlicht: September 2011]