Ein erklärtes Anliegen des SPG-Vorstands ist, mehr junge Leute fürs Physikstudium zu gewinnen. Voraussetzungen sind die Fähigkeit, selbständig, abstrakt und exakt zu denken und die Bereitschaft, sich intellektuellen Herausforderungen zu stellen. Beides kann während der Gymnasialzeit erworben werden, wenn wieder mehr auf klassische Bildungsfächer wie Deutsch, Geschichte, Philosophie, Mathematik, Physik, aber auch auf alte Sprachen gesetzt wird. In seinem Essay "Mehr Einsteins!" in den SPG-Mitteilungen Nr. 26 hat der Publizist Ludwig Hasler in markigen Worten darauf verwiesen.
Unser Autor Renato Piva, Fachlehrer für alte Sprachen an der Kantonsschule in Solothurn, weist im Folgenden auf die guten Erfolge von Studenten in Naturwissenschaften hin, wenn sie Kenntnisse der alten Sprachen besitzen. Das deckt sich mit den positiven Erfahrungen von ETH-Präsident Prof. Ralph Eichler, die er in einem Interview mit dem "Tages Anzeiger" vor gut einem Jahr geschildert hat.

B. Braunecker, SPG-Sekretär

 

Worin liegt der eigentliche Vorteil der alten Sprachen ?

Renato Piva, Kantonsschule Solothurn

 

Im November 2008 wurde die im Auftrag von Bund und EDK von Prof. Fr. Eberle erstellte Studie ‚Evaluation der Maturitätsreform 1995 [EVAMAR]. Schlussbericht zur Phase II’ veröffentlicht. Im Dezember 2008 folgte die Studie ‚Hochschulreife und Studierfähigkeit’ der Arbeitsgruppe Hochschule-Gymnasium. Ein übereinstimmendes Ergebnis der beiden Studien fiel für manchen Bildungsexperten und für die Medien einigermassen überraschend aus: Das gute Abschneiden der Absolventen altsprachlicher Gymnasien auch in naturwissenschaftlichen Fächern.

Um die im Titel gestellte Frage zu beantworten, muss man zunächst verstehen, dass der altsprachliche Unterricht sich grundsätzlich von jenem der modernen Sprachen unterscheidet. Da das Ziel nicht die mündliche Unterhaltung mit einem antiken Artgenossen sein kann, erfolgt der ‚Spracherwerb’ nicht vorwiegend intuitiv, wie z.B. bei Englisch oder Französisch, sondern vor allem intellektuell durch die Grammatik. Diese dient dem Schüler zugleich als Referenzsystem, um Vergleiche mit anderen Sprachen (z.B. der Muttersprache) anzustellen.

Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Sprachreflexion anhand einer sorgfältigen, logischen und methodisch kohärenten Analyse des Textes. Dazu gehört auch das Erkennen und Ausdifferenzieren von Stilmitteln. Dies alles erfordert Einsatz, führt aber schliesslich zu einem besseren Leseverständnis und zu einem bewussteren Umgang mit der Muttersprache sowie zu einer höheren Präzision im schriftlichen und mündlichen Formulieren. Ausserdem wird auch die allgemeine Fähigkeit gefördert zu abstrahieren sowie strukturelle Ähnlichkeiten zu erkennen – freilich nicht nur in den Sprachen, sondern auch in den naturwissenschaftlichen Fächern.

Latein und Griechisch sind aber auch ausgesprochen interdisziplinär. Im Unterricht wird nämlich Kulturgeschichte im engeren wie im weitesten Sinne vermittelt. Dazu gehören Aspekte der Philosophie, Rhetorik, Geschichtsschreibung, Kunstgeschichte, Ethnologie, Wissenschaftsgeschichte, Zoologie, Botanik, Astronomie, Technologie, Religionsgeschichte und anderes mehr. Das Denken der antiken Gesellschaft erschliesst sich uns über Texte, die vor vielen Jahrhunderten in völlig anderen kulturellen Kontexten verfasst wurden (in diesem Sinne sind die alten Sprachen also auch ausgesprochen interkulturell). Etliche dieser Texte sind ‚nobelpreisverdächtige’ Dauerbestseller (z.B. Homers ‚Ilias’ und ‚Odyssee’ oder Ovids ‚Metamorphosen’), und nicht wenige haben das Denken, die Politik und die Wissenschaft der westlichen Welt entscheidend mitgeprägt – ebenso wie auch die Ästhetik der Griechen unser Schönheitsempfinden mitgeprägt hat (siehe goldenen Schnitt, Proportionen und Posen von Standbildern, Harmonie der Formen usw.).

Die Antike ist ein geschlossenes System. Kein anderes phil.-hist. Fach bietet eine solche Möglichkeit der Beobachtung.
Wie der Physiker in seinem Labor eine Versuchanordnung erstellt, um Zustände und Prozesse zu beobachten, so ist auch die Welt der Antike von uns aus gesehen ein geschlossenes System, das wir aus neutraler Warte wie ein Modell von aussen beobachten, beschreiben und in Beziehung zu jüngeren Phänomenen setzen und vergleichen können: Sind die USA, wie oft behauptet wird, ein zweites römisches Reich? Worin war die antike Sklaverei anders als die moderne? Ist die Aufgabe der dialektalen Unterschiede im Griechischen mit derjenigen in Frankreich vergleichbar? Wie würde sich eine solche in der vielsprachigen Schweiz auswirken?

Dank solcher Fragen kann der Schüler die historische Dimension von Sprache und Kultur erfahren und dabei z.B. lernen, dass jede lebendige Sprache (also auch die eigene Muttersprache) und jede Kultur einem ständigen Wandlungsprozess unterliegt.

Ein weiterer unbestreitbarer Vorteil ist durch den Erwerb des sog. internationalen Wortschatzes gegeben. Der lateinische Wortschatz hat mehr europäische Sprachen durchdrungen als jeder andere. So besteht ein grosser Teil des allgemeinen englischen Wortschatzes aus lateinischen (und griechischen) Begriffen. Man kann sogar sagen, dass das Meiste von dem, was als technisches oder wissenschaftliches Englisch daherkommt, eigentlich anglisiertes Latein oder Griechisch ist: quantum state, cryostat, superconducting dipole, astroseismology, collider etc. Einem Schüler, der gelernt hat, dass lateinisch momentum zum Verb movere ‚bewegen’ gehört und eigentlich ‚Bewegung’ bedeutet, ist der Zusammenhang mit dem physikalischen Drehmoment auf Anhieb klar, und - ist denn nicht auch der Augenblick ein Moment, eine ‚Bewegung’? Die einzelsprachlichen Ableitungen zu lernen wird so weniger mühsam, das passive Verstehen der Terminologie geschieht gar ohne grosse zusätzliche Anstrengung.

Schliesslich liefern Latein und Griechisch dank ihrer historischen Rolle den Schlüssel zum Verständnis eines grossen Teils der Weltliteratur, des Theaters, des Kinos und der neuen Medien. Jahrhunderte lang hat die europäische Literatur aus dem Brunnen der Antike geschöpft. Themen, Bilder und Persönlichkeiten begegnen uns in Büchern, im Theater, im Kino, im Fernsehen und im Internet. Ein Ende ist nicht abzusehen (vgl. z.B. ZEUS und HERA, SPG-Mitteilungen Nr. 28). Die Herkunft der Motive zu kennen, bedeutet, sie auch richtig einordnen und interpretieren zu können. Und über eine Allgemeinbildung zu verfügen, die jedem von uns gut ansteht.

 

Auszug aus Interview des Tages-Anzeiger vom 5.9.2008 zum Thema Schulreport: „ETH Präsident Ralph Eichler im Gespräch“, von Philipp Mäder.

Tages-Anzeiger: Woran fehlt es jenen, die durch die erste Zwischenprüfung (an der ETH) fallen?

R. Eichler: Mein Befund ist überraschend: Diese Maturanden können sich sprachlich zu wenig präzise ausdrücken. Das ist entscheidend, weil in den Naturwissenschaften - sicher viel stärker als in der Literatur - jedes Wort seine genaue Bedeutung hat. Dieses Textverständnis lernt man im Gymnasium in der Mathematik und den alten Sprachen. Wer Latein oder Griechisch hatte, ist oft auch an der ETH gut. Deshalb muss die nächste Maturareform die Kompetenz einer exakten Sprache stärker gewichten.

 

[Veröffentlicht: November 2009]