Die nukleare Entsorgung in der Schweiz 1945-2006

Jörg Hadermann, Hans Issler, Auguste Zurkinden:
Die nukleare Entsorgung in der Schweiz 1945-2006
Verlag Neue Zürcher Zeitung 2014, 200 Seiten, 74 Abbildungen, ISBN 978-3-03823-890-4

 

Drei unmittelbar beteiligte Persönlichkeiten haben in verdankenswerter Weise die Geschichte der nuklearen Entsorgung in der Schweiz aufgearbeitet: Hans Issler, langjähriger Direktor und Präsident der NAGRA, Jörg Hadermann, Leiter des Labors für Endlagersicherheit am PSI und Auguste Zurkinden, Leiter der Sektion Radioaktive Abfälle der HSK. Andreas Pritzker, Mitglied des Direktoriums des PSI, zeichnet für die Gesamtredaktion.

Die Geschichte der nuklearen Entsorgung ist auch die Geschichte der Kernenergie, aber nicht nur: in den ersten Jahren stammten die radioaktiven "Rückstände", wie man damals sagte, vorwiegend aus Medizin, Industrie und Forschung (MIF). Selbst für jemand, der diese Geschichte von Anfang an bewusst mitverfolgt hat, ist es zuweilen reizvoll, auf Überraschungen zu stossen, auf Ereignisse, die aus heutiger Sicht undenkbar sind: Wer kann sich vorstellen, dass in einer Industrieausstellung ein Kernreaktor einfach so zu Demonstrationszwecken in Betrieb genommen wird? So geschehen 1955 in Genf!

Die Autoren erinnern uns in ihrem Buch an viele solcher Meilensteine der Entwicklung der Kernenergie. Man nimmt erstaunt zur Kenntnis, dass die ersten abgebrannten Brennstäbe zur Wiederaufbereitung nach Frankreich und England verschifft wurden, ohne dass die Rückstände – also die hochaktiven Spaltprodukte – zurück genommen werden mussten; oder dass die schwach- und mittelaktiven MIF-Abfälle bis 1982 im Meer versenkt wurden.

Bald nach der Inbetriebnahme der ersten drei Kernkraftwerke 1969 bis 1972 zeichnete sich aber immer deutlicher ab, dass wir die Entsorgungsprobleme in Zukunft nicht mehr würden exportieren können. So gründete man 1972 in weiser Voraussicht die NAGRA, die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle. Genossenschafter waren und sind bis heute die Kernkraftwerkbetreiber und der Bund, der die Verantwortung für die MIF-Abfälle übernommen hatte.

Das Protokoll der darauffolgenden Geschichte ist eine beklemmende Lektüre. Diese Geschichte ist eine Abfolge von guten Ideen, seriöser Forschung und politischen Fehlschlägen. Typisch dafür sind zwei Episoden, die schliesslich weit mehr wurden als Episoden: Die Projekte "Gewähr" (der Bundesrat wollte, dass die Lösung des Problems bis Ende 1985 gewährleistet sei) und Wellenberg, das Projekt eines Endlagers für schwach- und mittelaktive Abfälle in Nidwalden. Die Autoren schildern die Ereignisse und Etappen mit einer seltsam distanzierten Kühle, die keinen Einblick gibt in die Gefühle, die sie bei unverständlichen Bundesrats- und Volksentscheiden befallen haben müssen. Ein einziges Mal blitzt eine Spur von Sarkasmus auf: Wenn die Argumente der Gegner der beiden Wellenberg-Abstimmungen kommentarlos einander gegenübergestellt werden: In der ersten Abstimmung hiess es, man könne nicht über den Sondier­stollen und das Endlager gleichzeitig abstimmen; in der zweiten, in der das Endlager nicht mehr zur Diskussion stand, man könne nicht einem Sondierstollen zustimmen, ohne zu wissen ob man dereinst zum Lagerkonzept etwas zu sagen haben werde.

Die Geschichte des Wellenberg ist typisch für die Geschichte der Bemühungen um die nukleare Entsorgung in der Schweiz, sie ist aber auch typisch für das hier besprochene Buch: Der epische Kampf um das Vertrauen des Nidwaldner Volkes ist auf gerade mal 10 Seiten abgehandelt. Das ist möglich, weil sich die Autoren auf eine technokratische Beschreibung der Projekte und den Ablauf der Ereignisse beschränken. Die Frage, wie man das Vertrauen der Stimmbürger hätte gewinnen können, respektive die Frage, wie man es verspielt hat, wird nicht gestellt, geschweige denn diskutiert.

Dieser technokratische Ansatz ist nicht nur die grösste Schwäche des Buches, er ist wohl symptomatisch für die ganzen Anstrengungen, das Entsorgungsproblem zu lösen. Sie beschränkten sich auf die technisch-wissenschaftlichen Aspekte und vernachlässigten die sozialpsychologische Seite. Die Frage ist nicht nur "wie dicht ist das Gestein?", mindestens ebenso wichtig ist die Frage "wie gewinne ich das Vertrauen der Bevölkerung?". Es gibt im Buch einen kurzen Abschnitt zum Thema Öffentlichkeitsarbeit, aber die üblichen PR-Aktionen genügen nicht, wenn das Gelingen der Aufgabe von den Gegnern mit allen Mitteln verhindert wird. Wunderbar konzipierte Ausstellungen können informieren, aber sie schaffen nicht Vertrauen. Ein herziges Männchen mit einem Bohrer auch nicht. Offenbar war man sich in all den Jahren nicht bewusst, dass die Gegner der Kernenergie in der Frage der nuklearen Entsorgung ihre Schlacht von Waterloo schlagen: Die "ungelöste" Frage der radioaktiven Abfälle ist das einzige ihnen verbliebene Argument gegen die Kernenergie. Darum darf die Lösung nicht gelingen. Man findet in diesem sonst höchst lesenswerten Buch keinen Hinweis, dass dieses fundamentale Problem jemals erkannt worden wäre und dass über entsprechende Strategien nachgedacht worden sei.

Simon Aegerter, Wollerau

 

 

[Veröffentlicht: September 2014]