Die Rolle der Mittelschulen in der Nachwuchspflege

Bernhard Braunecker, SPG Sekretär

Schnittstelle Mittelschule / Hochschule

Bei der Nachwuchspflege in Physik sind die Mittel- und Hochschulen in gleicher Weise gefordert: so müssen die Mittelschulen neue Ansätze finden, um mehr Schülerinnen und Schüler für Naturwissenschaften nachhaltig zu begeistern, während die Hochschulen in der Pflicht sind, die Begeisterung in der harten Zeit der ersten Semester zumindest zu erhalten. Beide Schulen wissen, dass der psychologisch heiklen Schnittstelle zwischen Sekundär- und Tertiärbereich, wo für junge Leute ein kritischer Kulturschock erfolgt, mehr Aufmerksamkeit zukommen muss als bisher, allein schon wegen des rückläufigen Alters der Maturanden. Dieses Thema wird mit Sorge von den Verantwortlichen der Gymnasien wahrgenommen, und wir bringen hier den Kommentar von Stephan Wurster, Rektor der Kantonsschule Sargans / SG:

"Verschiedene Kantone haben in den letzten Jahren auf die Kritik am zu hohen Alter der Maturandinnen und Maturanden reagiert. So wurde unter anderem das Einschulungsalter vorgezogen und die Dauer des Gymnasiums reduziert. Heute treten die Schülerinnen und Schüler im Kanton St. Gallen mit 14 Jahren in das (Kurzzeit-) Gymnasium ein und erhalten mit 18 die Matura. Entsprechend jünger sind im Anschluss die Erstsemester an den Universitäten. Für das Gymnasium bedeutet dies, dass unsere Lehrpersonen verstärkt erzieherische Aufgaben wahrnehmen und den Unterricht an die jüngeren Schülerinnen und Schüler anpassen müssen. Wenn dies nicht gelingt, scheitern vor allem Spätentwickler. Dabei sind die Knaben überproportional betroffen. Im relativ überschaubaren Rahmen der Gymnasien beurteile ich einen solchen Kulturwandel mit den heutigen Strukturen als machbar. Was mir Sorge bereitet, ist die Frage, ob auch die Universitäten darauf vorbereitet sind, sehr junge Studierende aufzunehmen? Sowohl die Forderung nach jüngeren Studierenden als auch die Einführung des Bologna-Systems orientieren sich stark an angelsächsischen Vorbildern. Das angelsächsische System beruht aber auf Campus-Lösungen und einer recht engen Führung und Betreuung der Studierenden in den ersten Semestern. Persönlich bin ich überzeugt, dass die Universitäten dieser Frage in Zukunft grosse Aufmerksamkeit schenken müssen, wenn sie nicht viele fähige Studierende und damit ein wichtiges Potential aufgrund ungenügender Strukturen verlieren wollen. Die teilweise hohen Ausfallquoten in den ersten Semestern deuten meines Erachtens jedenfalls darauf hin, dass Handlungsbedarf besteht."

Da für die SPG als nationale Standesorganisation die Nachwuchsförderung einen hohen Stellenwert besitzt, wird sie versuchen, sich in den Dialog zwischen beiden Schulsystemen im Falle der Physik einzubringen.

Lehrermangel in den Naturwissenschaften

Eine weitere Sorge der Mittelschulen betrifft in nahezu allen Schweizer Kantonen den Mangel an Lehrerinnen und Lehrern in den naturwissenschaftlichen Fächern. Dieser Zustand mit seinen langfristig negativen Auswirkungen auf die Zahl von Studienanfängern in den Naturwissenschaften ist auch europaweit zu spüren, wie anlässlich der Jahrestagung der Europäischen Physikalischen Gesellschaft EPS im März 2009 von Vertretern vieler europäischer Länder beklagt wurde.

Diese Fragen werden in einem Bericht des EPS-Forums "Physics and Society" untersucht: "The educational challenge: A new deal between science teaching and science and society on physics in schools", an dem SPG-Präsident C. Rossel als Vorstandsmitglied mitwirkte.

Wie man hierzulande das Thema aufgreift, schildert der folgende Bericht.

Massnahmen zur Förderung des naturwissenschaftlichen Unterrichts im Kanton St. Gallen

Im Kanton St. Gallen betrifft der Lehrermangel in erster Linie die Fächer Physik, Mathematik, Chemie und Latein, wie Christoph Mattle, Leiter des kantonalen Amtes für Mittelschulen, im St. Galler Tagblatt vom 15.7.2009 ausführte. Momentan kann zwar der Kanton St. Gallen auf Lehrpersonen aus dem nahen Ausland Vorarlberg und Deutschland zugreifen, ebenso auf junge Leute mit abgeschlossenem Fachstudium, jedoch noch ausstehendem pädagogischen Abschluss. Aber den Verantwortlichen ist klar, dass diese Massnahmen nur kurzfristig Symptome lindern, jedoch keine dauerhafte Lösung darstellen können. Es gilt vielmehr die wahren Ursachen zu erkennen.

Laut C. Mattle ist einer der Hauptgründe der Misere, warum Lehrer längst kein Traumberuf mehr sei, dass "…das Interesse der Bevölkerung an naturwissenschaftlichen Phänomenen nicht mehr allzu gross sei…". Das Desinteresse der Schüler spiegele somit ein gesellschaftliches Problem unserer Zeit wider, dass zwar jeder gern die Errungenschaften der Naturwissenschaften und der Technik benutze, aber nur wenige bereit seien, sie auch verstehen zu wollen. Das führe dann zu einer gefährlichen Schieflage in der Gesellschaft, wenn Konsum und Bequemlichkeit einen höheren Stellenwert erlangen als das Erarbeiten von Lösungen.

An diesem Punkt wird nun angesetzt: Anstatt die Schüler das Desinteresse ihres Umfelds in die Schule tragen zu lassen, sollen sie umgekehrt das Selbstbewusstsein, das sie in der Schule bei der Lösung anspruchsvoller Aufgaben gewinnen, nach aussen reflektieren. Klassische Bildungsfächer wie Deutsch, Geschichte, Naturwissenschaften, aber auch alte Sprachen, die die Fähigkeit zum selbständigen, exakten Denken vermitteln, sind dazu bestens geeignet.

Im Kanton St. Gallen werden nun auf Beschluss der Kantonsregierung ab kommendem Schuljahr für Neueintretende je eine zusätzliche Lektion in angewandter Biologie, Physik und Chemie eingeführt, und dies ohne Abstriche bei anderen Fächern. Die Extrastunden kosten den Kanton 700'000.- Franken im Jahr. Unter dem Akronym TAN = Technik und Angewandte Naturwissenschaften soll praxisorientierter und lebensnaher Unterricht angeboten werden, wobei "Bierbrauen im Reagenzglas", aber auch die chemische Analyse von Kosmetika erste Themen sein können. Ob mit Themen dieser Art auch nachhaltig für ein Physikstudium geworben werden kann, ist abzuwarten. Der Kanton erhofft sich immerhin, dass nicht nur die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den naturwissenschaftlichen Zweigen der Gymnasien angehoben werden kann, sondern auch generell der Stellenwert der Naturwissenschaften in der Gesellschaft.

 

[Veröffentlicht: Juni 2010]