Victor Franz Hess, Entdecker der kosmischen Strahlung

Peter Maria Schuster

Am 28. April 1937, an einem Morgen von beklemmender Düsternis, fährt ein Steyr 100, gelenkt von einer imposanten Gestalt, behütet mit Homburg, begleitet von einer älteren Dame, die einen Hund auf ihrem Schoß hält, von Admont in Richtung Präbichl. Es ist der Nobelpreisträger Victor Franz Hess mit Frau Maria und Dackel Hexi auf dem Weg nach Graz, um dort seine Stelle als Vorstand des Physikalischen Instituts anzutreten. Die Übersiedlung ging recht glatt vonstatten. Der Möbelwagen war bereits vor ihrer Ankunft entladen worden: „40 Kisten mit Apparaten und Büchern, zwei Schreibtische, Aktenschrank, Bücherkasten und 1400 kg Blei“ waren mit Professor Hess vom Institut in Innsbruck nach Graz übersiedelt.

Fünf Monate davor, am 24. November 1937, hatte Hess noch in das Gästebuch am Hafelekar eingetragen: „Erster Besuch nach der Zuerkennung des Nobelpreises“. Das war sein Höhepunkt gewesen. Seine Entdeckung der „Kosmischen Strahlung“, 1912 in seiner Wiener Zeit als Assistent am Institut für Radiumforschung und Kernphysik gelungen, war durch die Verleihung des Nobelpreises 1936 endlich gewürdigt worden. In zehn Ballonaufstiegen hatte er damals in den Jahren 1910-1912 nachweisen können, dass die Leitfähigkeit der Luft zwar mit der Höhe abnimmt, dann aber von etwa 1800 m aufwärts wieder zunimmt und in 5000 m Höhe sogar einen vielfach größeren Wert als am Boden erreicht. Danach führte die weitere Erforschung der „Hess’schen Strahlung“ zur Entdeckung von neuen Bausteinen der Materie. Die kosmische Strahlung wurde zum Laboratorium der Hochenergie-Physiker, da sich Energiewerte, wie ihre Teilchen sie besitzen, in irdischen Labors noch nicht erreichen ließen.

In Graz angekommen, fühlt er, von nun an geht es bergab. Es ist nicht die Gesundheit, die ihm Sorgen macht. Die Amputation des linken Daumens – offensichtlich Folge einer Radiumverbrennung aus seiner Wiener Zeit – hat er gut überstanden. „Den Daumen sollte ich eigentlich dem Radiuminstitut in Spiritus eingelegt als Andenken übersenden“, scherzt er. Auch von der Kehlkopfkrebs-Operation im November 1934 hat er sich überraschend gut erholt. Er meint zwar: „Sehr lästig ist das Nicht Telefonieren können! Nun, man muss dankbar sein, daß die Sache so weit gut verlaufen ist“, nur: „Ich fühle mich bei jeder größeren Gesellschaft wegen des allgemeinen Lärms so vereinsamt und ‚out of place‘ – da ich leider nur leise sprechen kann, daß ich verzichten muss, an solchen Festen teilzunehmen. Eine Art ‚Inferioritätskomplex‘ entwickelt sich daraus“. Das quält ihn, aber wirklich erdrückend empfindet er die politische Entwicklung. „Die Menschheit hat alle Errungenschaften der Technik nur zum Zerstören und Morden verwertet“, schreibt er an Stefan Meyer. Er ärgert sich, dass ein Österreicher an der Deutschen Physikertagung 1933 teilnimmt, hört mit Entrüstung, dass Frau Meitner, wie so viele andere auch, entlassen worden ist. Und „… daß auch Schrödinger es jetzt in Berlin nicht mehr aushält, hat mich tief ergriffen“.

Bereits am 4. Mai 1937 beginnt Hess mit seinen Vorlesungen in Graz. An jedem Freitagnachmittag wird er mit Schrödinger, der jetzt ebenfalls in Graz lehrt, ein Seminar abhalten, bei dem ihre neuesten Forschungsergebnisse besprochen werden. „Ich wollte, es könnte sich jeder Mensch seine Staatsbürgerschaft selbst frei wählen“, bemerkt er. Hess gehörte wie Schrödinger dem Kreis weltoffener Physiker an und lehnte übertriebenen Nationalismus ab.

Sein ungutes Gefühl hat ihn nicht betrogen. Als Österreich am 12 März 1938 von den deutschen Truppen besetzt wird, wird Hess für kurze Zeit verhaftet. Man verübelt ihm, dass er konservativ denkt, überzeugter Katholik ist und den Nationalsozialismus ablehnt. Unter seinen Schülern und Dissertanten befinden sich Weltgeistliche und Ordensbrüder. Die Motivierung für seine Inhaftierung lautet: „Kommunistische Umtriebe am Grazer Zentralfriedhof“! Am 28. Mai 1938 wird Hess in den vorläufigen Ruhestand versetzt, und im September 1938 wird er fristlos und ohne Pension entlassen.

Im Oktober des gleichen Jahres fährt ein Mann im Alter von Mitte 50 mit dem Arlbergexpress von Innsbruck nach Westen. Außer den Fahrkarten nach Amerika hat er nur zehn Mark bei sich. Die Nazibehörden haben Hess zwar bewilligt zu emigrieren, aber sie gestatten ihm nicht, auch nur eine Mark mehr mitzunehmen. Die 20.000 Dollar seines Nobelpreises, die er in Schweden investierte, hat er als so genannte „Reichsfluchtsteuer“ in „Deutsche Reichsschatzscheine“ umtauschen müssen. Auch seine Apparate auf dem Hafelekar bleiben zurück, ohne dass er eine Entschädigung erhält.

Am 10 November 1938 kommt Hess mit seiner Frau in New York an und hält eine Woche später an der Fordham University seine Antrittsvorlesung. „Sie sehen“, schreibt er an Meyer, „im Ganzen bin ich vom Glück begünstigt gewesen. Ich werde gewiß von Tausenden beneidet – und doch ist mir weh ums Herz. Die schönen Zeiten in der Boltzmanngasse – alles verklungen und verschwunden.“

Nach Kriegsende kommt Hess noch mehrmals nach Innsbruck und Wien. Graz wollte er nicht mehr besuchen. Er konnte nicht vergessen, wie er von dort vertrieben und damit aus vorderster Front in der Physik abgezogen worden war. Am 17. Dezember 1964 ist Hess in Mt. Vernon, N.Y. gestorben.

Das Phänomen der Kosmischen Strahlung aber, das uns Hess erstmals gewissermaßen „ex esse“ zur Existenz gebracht hat, lässt ständig neue Fragen aufwerfen: es sind dies wahrhaft „kosmische“ Probleme, wie es einmal der Grazer Universitätsprofessor Siegfried Bauer treffend formuliert hat.

Mit der Gründung der Victor-Franz-Hess-Gesellschaft in Graz soll ein Zeichen gesetzt sein, dass dieser charakterstarke und liebenswürdige Österreicher, dem wir eine der größten Entdeckungen der Physik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdanken, heute wieder eine Heimat in seiner Steiermark erhalten hat.

 

[Veröffentlicht: Juli 2009]