"Balanced Engineering" für MINT-Fachkräfte in der Industrie

Bernhard Braunecker & Jürg Weilenmann

 

Organisationsstrukturen von Firmen

Die produzierende Industrie muss laufend mit strukturellen Anpassungen auf den steten Wandel ihres Umfelds reagieren. Unternehmensberater und Wirtschaftsexperten empfehlen bei Restrukturierungsbedarf jeweils eine der gerade aktuellen Organisationsformen als die bestgeeignete, aber mangels intimer Fach- & Branchenkenntnisse sind diese Empfehlungen zumeist so allgemein formuliert, dass sie konkretisiert werden müssen, bevor sie in die Praxis umgesetzt werden können. Und diese Umsetzung, soll sie denn erfolgreich sein, sollte die Kompetenzen der Firma nicht nur erhalten, sondern möglichst verstärkt zum Zuge kommen lassen. Dazu braucht es Insiderwissen.

Der folgende Beitrag nimmt sich dieses Themas aus parteiischer Innensicht [biased view] unmittelbar Betroffener an. Beide Autoren waren – nach beruflichen Engagements in anderen Industrieunternehmen im In- & Ausland – als Physiker bzw. Mathematiker in der zentralen Entwicklung von Leica Geosystems in Heerbrugg tätig, und beide haben seit 1980 verschiedene Varianten der Industrieorganisation miterlebt. Der nachstehende Vorschlag eines ‚Balanced Engineerings’ [BE] entstand Mitte der 1990er Jahre als Ergebnis einer firmeninternen Studie, wie Industriemathematiker & -physiker ihre Fähigkeiten optimal einsetzen können. In der Studie wurden zuerst vergangene und aktuelle Organisationskonzepte analysiert und dann aus den Vorteilen beider in dialektischer Weise die neue Struktur abgeleitet. Das BE-Konzept erwies sich aber nicht nur für diese „wissenschaftlichen Industriearbeiter“ als vorteilhaft, sondern auch für weitere Bereiche der industriellen Praxis.

Obschon 15 Jahre alt, könnten die nachstehenden Ausführungen auch heute noch von Interesse sein. In den Klagen über gegenwärtigen und laut Wirtschaftsprognosen sich zukünftig noch verschärfenden Fachkräftemangel, insbesondere im MINT-Bereich [Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik], kommt nebst den gängigen Gegenmassnahmen „Pensionsaltererhöhung“ & „qualifizierte Zuwanderung“ nämlich diese zu kurz: Effektivere Nutzung vorhandener MINT-Potenziale. Genau das strebt BE an.

 

Industrial Engineering

Bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts bestimmten traditionelle Technologiefirmen die Spezifikationen ihrer Produkte, deren Preis und ihre Verfügbarkeit weitgehend autonom; Marktaspekte wurden kaum beachtet, da die Hersteller weitgehend monopolistisch agieren konnten. Dieses Industrial Engineering genannte Verhalten prägte die internen Firmenstrukturen mit dominanten Zentralbereichen für Entwicklung & Produktion, während produktspezifisches Marketing & Verkauf klar untergeordnete Geschäftsbereiche waren. Für die meist in der Entwicklung tätigen MINT-Fachkräfte waren dies goldene Zeiten, aber diese Organisationsstruktur hatte zur Folge, dass viele europäische Firmen Marktentwicklungen verschliefen und durch japanische Konkurrenten, die auf Nachfragen agiler reagierten, in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten. Das Verschwinden vieler traditioneller Firmen gerade im deutschsprachigen Raum war die logische Konsequenz.

 

Reverse Engineering

Ende der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts reagierte man in Europa panikartig auf die veränderte Situation: Man übertrug den Produktbereichen unternehmerische Kompetenz & Verantwortung, um deren Marktagilität zu erhöhen. Entwicklung & Fertigung wurden konsequent auf die Marktbedürfnisse ausgerichtet und damit Marketing & Vertrieb untergeordnet. Diese Inversion des Industrial Engineerings wird in der Literatur Reverse Engineering genannt und ist dadurch gekennzeichnet, dass nunmehr Marktanalysen über Spezifikation, Preis und Markteintrittzeitpunkt eines Produktes entscheiden. Da letzterer möglichst früh sein soll und gleichzeitig höhere Qualität bei tieferen Kosten gefordert wird, ergaben sich für Entwicklung & Fertigung zeit- & kostenkritische Bedingungen. Als Folge schlug die am Markt herrschende Volatilität auf die Entwickler und auf die Fertigung zurück und löste dort Hektik und Nervosität aus.

Mittels organisatorischer Massnahmen wie Simultaneous Engineering und Just in Time wird seither versucht, das Dilemma zu entschärfen. Diese Konzepte entfalten die beabsichtigte Wirkung aber nur, wenn produkt- und fertigungsrelevante Grundlagen beherrscht sind, ansonst es in der Endphase von Produktentwicklungen oder gar in Fertigungsserien zum gehäuften Auftreten technischer Probleme grundsätzlicher Natur kommt. Dann wird versucht, diese mittels meist kostspieliger „Feuerwehraktionen“ notdürftig unter Kontrolle zu bringen. Viele solcher Pannen wären nicht passiert, wären die grundlagennahen Entwicklungsschritte mit der erforderlichen Sorgfalt absolviert worden.

Das geschilderte Verhalten ist umso ausgeprägter, je konsequenter die Vertikalisierung ist: Knappe Mittel werden ausschliesslich applikationsfokussiert und primär in der eigenen Produktlinie eingesetzt, wodurch Spin-Offs, Synergien und längerfristige Perspektiven auf der Strecke bleiben. Kurzum: Das Reverse Engineering hat zwar durch Umkehrung der Subordinationsverhältnisse die Marktkompetenz der Geschäftsbereiche gestärkt, dabei aber die Rahmenbedingungen für die Entwicklung verschlechtert. Für MINT-Wissenschaftler, meist am Anfang der Wertschöpfungskette stehend, ist das eine schlechte Lösung.

 

Balanced Engineering für Entwicklungsabteilungen

Es lag nun nahe, die Vorteile von Industrial & Reverse Engineering in der neuen Variante des Balanced Engineerings zu vereinen. Eine derartige Unternehmenskultur ist dadurch gekennzeichnet, dass einerseits eine langfristige & umfassende Technologie-Strategie verfolgt wird und andererseits den Produktgeschäftsbereichen ihre Marktkompetenz & Marktagilität erhalten bleibt. Die beiden vorstehend geschilderten Organisationsformen inhärente Subordination ist in einem ersten Schritt durch eine gleichberechtigte Komplementarität von Technologieentwicklung, Produktentwicklung und Fertigung zu ersetzen.

So können grundlagenorientierte Technologie- bzw. Modulentwickler, marktorientierte Produktentwickler und fertigungsorientierte Prozessentwickler nach adäquaten Prioritäten in einem ihnen vertrauten und ihren Neigungen entgegenkommenden Umfeld arbeiten: Die Modulentwickler entwickeln im Gleichschritt mit der allgemeinen Technologie-Evolution mehrfach einsetzbare Module mit langen Halbwertzeiten, während Produkt- & Prozessentwickler dank Zugriff auf erprobte Technologiemodule rasch auf Markterfordernisse reagieren können.

Der „Time to Market“ für die Produktentwickler entspricht die „Time to Maturity“ für die Technologieentwickler. Dem Unterschied dieser beiden Zeitskalen – die erste ist typischerweise viel kürzer als die zweite – wird am besten Rechnung getragen, indem Technologie- & Produktentwicklung organisatorisch getrennt werden. Andernfalls wird die chronisch überlastete & verspätete Produktentwicklung Kapazität von der Technologieentwicklung abziehen, diese auch in Verzug bringen und einen Reigen nicht enden wollender „Feuerwehrübungen“ in Gang setzen – ein Szenario, das manchem Entwickler wohlbekannt sein dürfte. Bei Leica Geosystems wird die Technologieentwicklung mittlerweile als rechtlich eigenständige Firma geführt.

 

Balanced Engineering für MINT-Wissenschaftler

Für global agierende Schweizer Technologiefirmen ist die rasche Nutzung technischer Innovationen in ihren Produkten essenziell. So sind etwa die in Instrumenten von Leica Geosystems eingesetzten Technologiemodule meist weniger als zwei Jahre alt. Für diese Firmen ist es deshalb notwendig, Organisationsstrukturen zu schaffen, in denen MINT-Mitarbeiter ihre Fähigkeiten ungehindert entfalten können. Was sind denn die Stärken dieser Mitarbeiter ?

Erstens verstehen sie die Prinzipien einer Methode oder Technologie so weit, dass sie diese bis an ihre grundsätzlichen Grenzen ausreizen können, etwa um aus verrauschten Signalen noch Nutzinformation zu extrahieren. Das ist wertvoll, da es den Anwendungsbereich und die Robustheit von Geräten – also deren Praxistauglichkeit – erhöht. Zweitens verfügen sie über Abstraktionsvermögen, was sie befähigt, Bewährtes in anderen Disziplinen oder anderen Kontexten zu erkennen und dies auf ihr Arbeitsgebiet zu übertragen. Beispielsweise ist die heutige Optik zur Schlüsseltechnologie für eine hochparallele Informationsverarbeitung geworden, weil es gelang, Konzepte der elektrischen Signaltheorie auf photonische Systeme zu übertragen. Schliesslich erkennt ein MINT-Wissenschaftler sehr schnell, welche neuen Freiheitsgrade in ein technisches System eingeführt werden müssen, um signifikante Verbesserungen zu erzielen. Ein gutes Beispiel aus der Photonik ist die Verarbeitung zweckdienlich codierter Objekte als ‚strongly correlated signals’, um die klassischen Grenzen der Punktauflösung zu überwinden.

All diese Fähigkeiten können im von BE geschaffenen Freiraum des ‚Time to Maturity’ erfolgreich umgesetzt werden. Diese Organisationsform erlaubt den Wissenschaftlern, in engem Kontakt mit Hochschulinstituten deren Forschungsergebnisse auf ihr Technologiepotential zu überprüfen und bei positiver Wertung daraus Kundenanwendungen abzuleiten. Das wiederum versetzt ihre Marketingkollegen in eine ungleich stärkere Position beim Kunden, da sie nicht wie im Reverse Engineering vorhandene Bedürfnisse unter hohem Konkurrenzdruck erfüllen müssen, sondern im Wissen kommender Technologien mit den Kunden neue Möglichkeiten ausloten können. Physiker würden dies als ‚Stimulated Engineering’ bezeichnen.

 

Balanced Engineering für Produkt- & Prozessabteilungen

Bemerkenswert ist, dass das BE-Konzept der Gleichberechtigung dualer Strukturen auch auf Produkt- & Prozessabteilungen angewendet werden konnte. In Zeiten des Industrial Engineerings standen bei Leica – wie vermutlich andernorts auch – die zentralen Prozessabteilungen, also die Fabriken, traditionell in Subordination zu den Produktgeschäftsbereichen. Sie bekamen nur von dort Aufträge erteilt, und der erarbeitete Gewinn floss auch nur dorthin zurück. Als die Geschäftsbereiche unter dem Druck japanischer Konkurrenten kostengünstigere Komponenten extern einzukaufen begannen, kamen die firmeneigenen Fabriken in Auslastungsprobleme, die zu sukzessivem Stellenabbau führten.

Dieses Dilemma liess sich erst lösen, als man Prozess- und Produktbereiche im Sinne des BE auf gleiche Augenhöhe brachte. Nun konnten die Fabriken neue Kunden gewinnen, strategische Allianzen eingehen und erzielten Profit bei sich investieren – kurz, sich unternehmerisch profilieren. So wurden sie zu attraktiven ‚Konzerntöchtern’, die vom Mutterkonzern, der als Hersteller von Systemen Fertigungstiefe abbauen musste, gewinnbringend in eine neue, jedoch für sie vorteilhaftere Umgebung veräussert werden konnten. Im Falle von Leica Geosystems kam z.B. die firmeneigene Optikfertigung als eigenständige Swissoptic im Konzern Berliner Glas in eine höchst anspruchsvolle Umgebung, in die sie ihre Technologiekompetenz für neue Aufgaben voll einbringen konnte, während Leica Geosystems den Verkaufserlös dazu benutzte, sich durch Zukauf einer in den USA entwickelten Laserscanner-Technologie auf Systemebene zu verstärken. Diese Technologie wurde in den letzten Jahren sukzessive von den USA ins Stammhaus nach Heerbrugg transferiert und gleichzeitig massgeblich weiterentwickelt. Heute sind trotz rechtlicher Trennung die weiterhin bestehende räumliche Nähe von ehemaligen Leica-Töchtern zur früheren Konzernmutter, die weiterhin gepflegten kollegialen Beziehungen und die kurzen informellen Wege so vorteilhaft für beide Seiten, dass sich die Geschäftsbeziehungen signifikant verstärkt haben. Diese Veränderungen haben zahlreiche neue attraktive Arbeitsplätze geschaffen, insbesondere auch für MINT-Wissenschaftler.

 

 

[Veröffentlicht: September 2011]