Richard Wenk ist CTO und Vizepräsident bei Hexagon Geosystems, zu der auch Leica Geosystems in Heerbrugg gehört.

"Lead-User-Workshops" für effizientes Innovations- & Produktvariantenmanagement

Bernhard Braunecker und Richard Wenk

 

Industriephysiker in Managementfunktion

Physiker sind in der Industrie nicht nur in Forschung und Entwicklung tätig, sondern auch als Produktmanager. In dieser Funktion müssen sie sich um drei Fragen kümmern: a) wie leistungsstark und erprobt sind die dem Produkt und dem Herstellprozess zugrunde liegenden Technologien, b) wie gut deckt das Produkt heutige und zukünftige Kundenanwendungen ab und c) wie wird es sich am Markt behaupten? Um den wirtschaftlichen Erfolg des Produkts zu sichern, müssen alle drei Fragen kohärent, also im Kontext positiv beantwortet sein. Die Abhängigkeit der Fragestellungen voneinander spiegelt sich zum Beispiel bei der Festlegung des Produktkonzepts wider: einerseits möchte man ein entsprechend grosses Angebot an Produktvarianten, um ein möglichst breites Kundenspektrum abzudecken; anderseits erfordern die für den Markterfolg zu minimierenden Herstell- und Vertriebskosten die Beschränkung auf nur wenige Varianten. Selbst wenn man den Widerspruch dadurch löst, dass man die Produkte baukastenmässig aus Modulen aufbaut, bleibt dennoch die Frage b) zu beantworten, ob sich damit auch alle gewünschten Kundenapplikationen erfüllen lassen?

Man sieht, dass die drei Fragestellungen ein profundes Verständnis der technisch-kommerziellen Abhängigkeiten erfordern, besonders, wenn neue Technologien ins Spiel gelangen. Während die Marktaspekte von Marketingleuten abgedeckt werden können, muss die Schnittstelle der Applikationen gemeinsam von Marketing und F&E bearbeitet werden. Sollte sich das angesprochene Modularkonzept dann als geeignet und machbar erweisen, ist es Aufgabe der F&E - Wissenschaftler, die Funktionalität und die Struktur der Module festzulegen. Nur wie lässt sich in diesem iterativen und mit vielen Fragezeichen versehenen Prozess mehr Gewissheit über das richtige Vorgehen gewinnen?

Ein sehr leistungsstarkes Werkzeug dazu sind sogenannte Lead-User-Workshops, wo man als Produkthersteller mit Repräsentanten wichtiger Kunden gemeinsam herauszufinden versucht, welche neuen Anwendungen durch den Einsatz kommender Technologien denkbar wären, und welche Produktvarianten dazu infrage kämen? Der Meinungsaustausch geschieht im gegenseitigen Interesse, da danach beide Seiten die Folgen anstehender Entscheide besser einzuschätzen vermögen. Bevor im Folgenden auf die Gestaltung eines solchen Workshops eingegangen wird, sei am Beispiel der Optikindustrie illustriert, dass Veranstaltungen dieser Art zur Bildung von auch in Krisensituationen belastbaren Interessengemeinschaften (Communities) führen können.

Alpha-Beziehungen von Physikern zwischen Firmen

Unter diesem Begriff sei verstanden, wenn die Geschäftsbeziehung zweier Firmen über das übliche Kunden/Lieferantenverhältnis hinausgeht, wenn also beider Primär­interessen strategisch in die gleiche Richtung zielen. Als klassisches Beispiel gilt das in der Optikindustrie enge Verhältnis zu den Glasherstellern, deren beste Lieferqualität gerade gut genug ist für hochwertige Optiksysteme. Besonders wichtig war und ist der Kontakt zwischen den Optikentwicklern im deutschsprachigen Raum und den Glasexperten von Schott in Mainz, um die hohen Qualitätsansprüche ans Glas, aber auch die Komplexität der Glasproduktion jeweils der anderen Seite verständlich zu machen. Dazu organisiert Schott seit Jahrzehnten regelmässig sogenannte "Designer"-Treffen, zu denen die gesamte Optikindustrie ihre Wissenschaftler schickt, um Probleme und Anregungen zu artikulieren.

Als Folge dieser Treffen bildete sich unter den Optikentwicklern eine Gemeinschaft über Firmengrenzen hinaus und bei vielen Kollegen zusätzlich auch ein enges Verhältnis zu den Glasproduktionsleuten, das sich zur Lösung von Problemfällen in der täglichen Praxis als vorteilhaft erweist. Als vor einigen Jahren japanische Glasherstellern überraschend "bleifreie" Gläser am Markt lancierten, konnte Schott unter Mithilfe der Experten aller grosser Optikfirmen im deutschsprachigen Raum rasch und gezielt auf die neue Situation reagieren. Diese "Alpha-Beziehungen" sind daher für beide Seiten ein wirksames Mittel der Risikominimierung (risk mitigation), sowohl in technischen Belangen, wie in der strategischen Ausrichtung.

Konzept eines "Lead-User-Workshops"

Im Folgenden wird die Vorgehensweise beschrieben, wie vor einigen Jahren bei Leica Geosystems in Heerbrugg ein Lead-User-Workshop zum anstehenden Thema der Digitalisierung von Vermessungsgeräten organisiert wurde. Dazu wurden 15 Experten aus aller Welt aus den Bereichen der amtlichen Landesvermessung, der Industrie, dem Bauwesen und der Denkmalpflege (cultural heritage) eingeladen. Das Ziel war, internes Technologie-Knowhow mit dem Applikations-Knowhow der externen Experten zu kombinieren. Im Vorfeld des WS wurden verschiedene, für Leica interessante Applikationsfelder (total 6) definiert, die dann am WS vorgestellt und bearbeitet werden sollten. Dabei sollten die externen Experten nach Kenntnis der neuen Technologieansätze sich nicht nur mit den möglichen Folgen für ihr eigenes Arbeitsgebiet auseinandersetzen, sondern auch mit dem ihrer Kollegen. Das sollte wichtige Argumente für die erwähnte Modularisierung liefern.

 

Auswahl der externen Teilnehmer

Die Auswahl der Experten ist die wichtigste Aufgabe, die von den Marketing- und Vertriebsleuten, gemeinsam mit den Auslandsvertretern, vorgenommen werden muss. Als Kriterien gelten, dass zu den Personen ein langjähriges Vertrauensverhältnis besteht, dass sie als Entscheidungsträger mit technischem Hintergrund noch Kenntnis der Abläufe in der täglichen Praxis haben, und dass sie offen für Neues sind.

  • In unserem Falle waren die Experten in folgenden Organisationen tätig:
    1. Fünf Ingenieurbüros und KMUs mit Fokus auf Architektur, Katastervermessung, Hoch-/Tiefbau, Tunnelbau,
    2. fünf Institutionen (Universitäten, Behörden, Ämter für Denkmalpflege),
    3. fünf "Big players" (Shell Oil, British Rail, CERN & US-Freeway companies).
  • Sie kamen aus vier Regionen, logarithmisch gewichtet:
    1. Schweiz,
    2. Deutschland / Österreich,
    3. Europa,
    4. USA.
  • Und sie deckten folgende Applikationsfelder ab:
    1. Traditionelle Märkte,
    2. Nischenmärkte mit Wachstumspotential,
    3. Neue Märkte.

Gruppeneinteilung

Es wurden drei Arbeitsgruppen mit jeweils fünf externen Experten gebildet, wobei in jeder Gruppe alle vier Regionen vertreten waren. Jeder Gruppe wird zugeteilt ein Moderator, sowie ein Produktmanager aus Marketing und ein technischer Berater aus F&E, die nur bei Klärungsbedarf eingreifen sollten.

Ablauf der Veranstaltung

Die Teilnehmer in den 3 Gruppen mussten jeweils zwei der Applikationsfelder wie folgt bearbeiten:

Schritt 1: Erarbeiten von speziellen Messabläufen (User Workflow) in den definierten Applikationsfeldern.
Schritt 2: Identifizieren von Problemen und deren Lösung, um den Messablauf wesentlich zu vereinfachen und zu verkürzen.
Schritt 3: Identifizieren von Kundenanforderungen für zukünftige Messsysteme.
Schritt 4: Erarbeiten von Konzeptvorschlägen für zukünftige Messsysteme.

Der Workshop (Figur 1) wurde dreiteilig angelegt:

  • Im Teil 1 schilderte jeder Teilnehmer typische Abläufe seiner täglichen Arbeit und verwies auf Probleme und Verbesserungswünsche (Schritte 1 & 2). Damit gewann jedes Gruppenmitglied Kenntnis über die Tätigkeiten der Anderen. Nach der Gruppenarbeit präsentierte der Moderator im Plenum vor allen Teilnehmern erste Gemeinsamkeiten in der noch sehr heterogenen Analyse und skizzierte erste Verbesserungswünsche.
  • Im Teil 2 informierte der F&E-Leiter der einladenden Firma, welche neuen Technologien in nächster Zeit zu erwarten sind. Dieser Schritt ist der psychologisch wichtige Icebreaker, der im geschilderten Fall auch zu einer spürbaren Solidarisierung der Experten untereinander und mit dem Veranstalter führte.
  • Im Teil 3 wurden in neuer Zusammensetzung der Gruppen die Konzeptvorschläge für zukünftige Messsysteme (Schritte 3 & 4) diskutiert, nun allerdings im Wissen kommender Technologiemöglichkeiten. Da die Grundaufgaben aller Teilnehmer meist ähnlicher Natur waren, war die Diskussion in allen Gruppen deutlich einheitlicher als am ersten Tag. Die darauf vorbereiteten Moderatoren lenkten deshalb die Diskussion in Richtung allgemein einsetzbarer Hardware- und Softwaremodule. Nach erneuter Präsentation der Gruppenarbeiten im Plenum gab der Vertreter des Veranstalters dann eine erste Zusammenfassung der Erkenntnisse (Wrap up).

Ergebnis, Auswertung, weitere Schritte

Nach Ablauf des WS wurden die gesammelten Kundenanregungen für verschiedene Applikationen in den predefinierten Anwendungsfeldern in drei Bereiche unterteilt: generelle Anwender-, Technologie- und Produktanforderungen. In jedem Bereich wurden die Empfehlungen dann konsolidiert, also möglichst vereinheitlicht über alle Anwendungsfelder hinweg. So konnte man bei den generellen Anwenderanforderungen vier Untergruppen bilden, für Genauigkeitssteigerungen, höhere Effizienz des Messsystems, geringere Störanfälligkeit und mehr Bedienerfreundlichkeit; im Bereich der Technologie gab es neun Untergruppen wie Empfehlungen für Echtzeit-Systeme und vereinheitlichtes Datenformat und im Bereich der Produktanforderungen sieben Untergruppen, wie z.B. für handhaltbare statt stativmontierte Instrumente, Multisensor Systeme, etc.

Aus diesen Anforderungskatalogen wurden dann Funktionen für die verschiedenen Produktgruppen abgeleitet. Grundsätzlich wurde dabei unterschieden zwischen Produktverbesserungen, also Optionen für die unmittelbare Zukunft, Innovationen, die interne F&E Anstrengungen benötigen, und Visionen, also Konzepte für zukünftige Systeme, die eine Grundlagenentwicklung mit Hochschulpartnern bedingen. Daraus wurden dann konkrete Produktideen abgeleitet, woraus letztendlich für die verschiedenen Produktkategorien 17 Produktvorschläge resultierten.

Diese Produktideen flossen dann bei den entsprechenden Divisionen in deren Roadmap-Prozess ein, wurden von den Produkt- und Technologiespezialisten dort hinterfragt, und es wurden realistische Produktentwicklungen definiert. Einige dieser Ideen konnten noch in bereits laufende Produktentwicklungen eingebracht werden, andere wurden verworfen aus Gründen der Machbarkeit oder weil der Bedarf aus Kundensicht noch nicht gegeben war, wieder andere wurden zurückgestellt, beziehungsweise als Kandidaten für externe Entwicklungen mit Hochschulen vorgesehen. Dabei wurde verstärktes Augenwerk auf eine mögliche Modularisierung gerichtet, also auf die Mehrfachverwendung von Grundmodulen (Principal Components) in verschiedenen Instrumenten und Dienstleistungen.

 

Optimales Konzept des Variantenmanagements

Die gewonnenen Erkenntnisse aus einem Lead-User-Workshop fliessen in die Auslegung zukünftiger Instrumente ein. Wie einleitend angedeutet, soll ein breites Angebot an Produktvarianten möglichst viele Kundenapplikationen abdecken, demzufolge sich aus Logistik- und Kostengründen ein modular hierarchischer Aufbau (Figur 2) empfiehlt: Teure Basismodule wie Optik, Mechanik und Elektronik werden standardisiert, also konstruktiv vereinheitlicht, während die Produktdifferenzierung möglichst weit ans Ende der Wertschöpfungskette geschoben wird, im Idealfall sogar in reine Softwaremodule. Im Gegensatz zu früher kann deshalb auch die kostengünstigste Variante die beste Hardware enthalten, wenn es sich wegen der grösseren Stückzahl und der Fertigungsautomatisierung lohnt. Die eigentliche Kernfrage lautet deshalb, mittels welcher Modulfunktionen kann Redundanz reduziert und die angestrebte Vollständigkeit des Applikationsspektrum realisiert werden? Bei der Beantwortung dieser Frage helfen die wichtigen Erkenntnisse aus dem Lead User Workshop.

 

 

[Veröffentlicht: Mai 2012]