Beat Kappeler ist Kommentator für Volkswirtschaft bei der NZZ am Sonntag, und Referent SKU Advanced Management Program
Seine neueste Publikation: "Wie die Schweizer Wirtschaft tickt. Die letzten 50 Jahre und die nächsten...", (NZZ-Verlag, und elektronisch bei Kindle, Apple), ist eine sehr persönliche Sicht, wie das "Modell Schweiz" entstand und wie zukunftsfähig es ist.

Die heutige stabile ökonomische Situation der Schweiz basiert auf den Pionierleistungen, die Ingenieure und Naturwissenschaftler in den letzten Jahrzehnten erbracht haben. Das gelang aber nur, weil in der Schweiz ein durchgängiges Bildungssystem mit vielen Zugangsmöglichkeiten, aber strengen Qualitätsmassstäben praktiziert wird. Dabei spielt die Physik eine wichtige Rolle, wenn es gilt, erlerntes Basiswissen auch über Fachgrenzen hinweg in Anwendungen einzubringen. Nun zeigt sich aber in der Schweiz wie auch in anderen westlichen Ländern die Gefahr einer schleichenden Desindustrialisierung, auf die BR Schneider-Ammann im März 2012 warnend verwiesen hat und die im folgenden Artikel vom bekannten Sozialwissenschaftler und Publizisten Beat Kappeler genauer analysiert wird. Es gilt dem Industriestandort Schweiz wieder vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken, auf die Stärken moderner Produktionsmethoden zu setzen und nicht nur das Feld asiatischen Massenproduzenten zu überlassen. Das erfordert, dass dem Ingenieurwesen, den Naturwissenschaften und letztlich der Physik wieder die Pionierrolle zugewiesen wird, die sie in der Vergangenheit hatten und die zur heutigen Prosperität führte.

Bernhard Braunecker

 

Wie die Schweiz eine Industrienation bleiben kann

Beat Kappeler

 

Frankreich ist desindustrialisiert, in der Schweiz laufen Güterexporte und Güterproduktion reibungslos. Wie in einem Laborversuch zeigen sich an diesen Ländern die Optionen, welche zerstören oder gestalten, nämlich die Wahl zwischen freiem oder geknebeltem Arbeitsmarkt, zwischen hoher Maturaquote oder dualer Lehre, sowie zwischen Schmusefächern oder Naturwissenschaften und Mathematik. Und leider ist nichts auf Dauer geschenkt, in der Schweiz drohen die gleichen falschen Weichenstellungen.

Vorderhand aber betreibt die Schweiz noch Industrie, während Frankreich sie vertreibt. Tausende von Entlassungen stehen in der französischen Autoindustrie an, ebenso Tausende in der Kommunikationswelt. Der Präsident und sein Industrieminister aber akzeptierten die Reduktionspläne nicht, die Arbeitsgerichte werden, wie schon oft, drei, vier Jahre später enorme Bussen und Lohnnachzahlungen verhängen. Was soll nun eine multinationale Firma, was soll ein französischer Unternehmer machen, falls sie vom französischen Absatzmarkt her expandieren könnten? Sie werden im Ausland investieren und nach Frankreich liefern, und "la désindustrialisation" geht weiter, das Handelsbilanzdefizit klafft tiefer, die Arbeitslosenzahlen steigen an. Und der sozialistische Bürgermeister des bisherigen Peugeot-Standorts wird weiterhin gegen "le grand capital" wettern.

Damit schälen sich die arbeitsmarktlichen Bedingungen für eine gelungene oder verhinderte Industrialisierung heraus. Die Palastarchitektur der Industrialisierung der 60er Jahre hat sich längst aufgelöst, die Firmen machen nicht mehr alles selbst und unter dem gleichen Dach. Sie automatisieren die eigentlichen Produktionstakte vollauf und beziehen alles andere von anderswoher: Teile, Halbfabrikate, aber auch Forschung, Prozesstechnik, Zulieferung und Verteillogistik. Ausgegliedert sind auch die Immobilien, die Hausdruckerei, die Mensa, die Putzequipen, die Kommunikation, die Finanzierung. In den lateinischen Ländern Europas führte dies zum ganz kurzsichtigen Aufschrei der Politiker und Gewerkschafter. Denn am eigentlichen Produktionspunkt verschwand tatsächlich die Arbeit, sie war wegrationalisiert, vollautomatisiert. Doch überall in der vor- und nachgelagerten Stufe tauchten die Tätigkeiten wieder auf, als Dienste, aber hochqualifiziert, rationell, diversifiziert nach Kunden und Geographie. Dies aber wurde übersehen, oder eben als Desindustrialisierung verschrieen. Politiker und Gewerkschafter interpretierten die Fokussierung, die neuen Takte, die weltweiten Wertschöpfungsketten als unternehmerische Schikane. Sie verharrten im Nullsummen-Denken, wonach alles, was der Firma nützt, dem Arbeiter schadet. Deshalb verweigerten sie Flexibilität, Überzeit, Auslagerungen, Kündigungen. Deshalb sind die Arbeitsmärkte Südeuropas heute total verriegelt, verrechtlicht, deshalb stellt niemand mehr fest ein, sondern nur befristet, wenn überhaupt. Deshalb hat sich die Arbeitslosigkeit trotz "Umverteilen der Arbeit" mit massiven Arbeitszeitsenkungen und totalem Kündigungsschutz seither verdoppelt und verdreifacht.

Die Industrie selbst bearbeitet die Materie künftig spektakulär anders. Informatik, Gentechnik und Nanotechnik kehren das Kleinste heraus, die Grossindustrie der Hochöfen wich Verarbeitungen in Laboratorien und mit feinmechanischen Automaten in der Grösse von Kaffeemaschinen. Auch diese Durchbrüche und diese Durchführungen erscheinen oft als "Dienste".

Doch was heute in der Schweiz als "Dienstleistungen" in der Statistik steht, ist immer noch Industrie, nur neu etiquettiert, und reicher, qualifizierter, arbeitsfreundlicher. Vollbeschäftigung herrscht, die Handelsbilanz quillt über.

Dieser pulsierende Arbeitsmarkt braucht allerdings auch die richtigen Leute. Heute beklagen Ausbildungsstätten, von der ETH bis zu Gymnasien, und natürlich die nachfragenden Industrien selbst den Mangel an naturwissenschaftlichen Berufungen. Ein grosser Teil der Forscher des Landes sind aus dem Ausland zugezogen, viele Ingenieure und Kader der Industriefirmen ebenfalls. Es fehlt aber nicht dort, wo die meisten meinen, beim Entscheid der Studienkandidaten mit 20 oder mehr Jahren. Sondern in den drei letzten Jahren der Volksschule entgleiste vor Jahren schon die Naturwissenschaft. Denn Chemie, Biologie, Physik wurden mit Geschichte, Geographie zusammen gelegt im Schmusefach "Natur-Mensch-Mitwelt" und ähnlichen schummrigen Begriffen. In diesem Fach fehlen Methoden, fehlen Vorbilder, fehlen Berufsbilder. Unterdessen sind wohl schon die meisten Lehrer ihrerseits durch diese unspezifische Allerweltsausbildung gegangen. Es braucht daher einen gewaltigen Ruck in der Lehrplanerneuerung, in der Lehrerbildung. Die Schüler müssen wieder in spezielle Zimmer der Biologie, Chemie, Physik geführt werden, sie müssen dort merken, dass Naturwissenschaft nicht beliebig aus Sammelthemen wie "Wasser", "Stadt", "Indianer", "Wald", "Holz" gelernt werden kann. Die naturwissenschaftliche Berufung ergibt sich nicht mit 20 oder 25 Jahren, sondern schon zum Ende der Volksschule. Der Berufsentscheid dannzumal weist die Schüler ins naturwissenschaftliche Gymnasium ein, in eine produktionsorientierte Lehre, später in die Fachhochschule. Das zweite, in den meisten Deutschschweizer Kantonen problematische Schwelle liegt in den Übertrittskriterien. Um in die Sekundarschulde zu kommen, um ins Gymnasium zu gelangen, muss man meist zwei gute sprachliche Noten haben – deutsch und französisch – und nur eine Note in Mathematik. Das Schulsystem sortiert gezielt die mathematischen Begabungen weg !

Sorge muss das Land also tragen für gymnasiale und für berufliche Lehrgänge. Heute entscheiden sich eine Mehrheit der Jungen für eine Lehre, und lernen dank der Berufsschule mindestens soviel abstraktes Wissen wie anderswo in den Allerweltsmittelschulen, in welche alle hineinbefördert werden, wie in Frankreich. Dafür sind unsere Jungen mit 20 schon arbeitsmarktfähig. Die duale Lehre ist eine Trumpfkarte, welche die Schweiz noch hat und welche sie verstärken, nicht schwächen muss.

Die unterschiedlich ergriffenen Optionen Frankreichs und der Schweiz liessen sich perfekt verfolgen auf der Seite des "Le Monde" Mitte Juli 2012, welche über die 10'000 Entlassungen bei Peugeot berichtete. Oben, und grösser aufgemacht, triumphierte die Zeitung über die 85% des Schülerjahrgangs, welche jetzt ein "baccaleuréat" machen – eine Vorgabe der Präsidentschaft Mitterrands, die jetzt erreicht sei. Dass das Eine mit dem Anderen in einem gewissen Zusammenhang stehen könnte, die Desindustrialisierung mit der oberflächlichen Akademisierung, wurde nicht erkannt. Die gegenwärtige Krise fehlender Wettbewerbsfähigkeit Südeuropas und Frankreichs zeigt der Schweiz die Optionen und deren Folgen. Falsche Optionen können, wie Südeuropa zeigt, nur mit destabilisierenden sozialen Konvulsionen korrigiert werden, wenn überhaupt. Die Schweiz aber ist und bleibt ein Industriestaat.

 

 

[Veröffentlicht: September 2012]