Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität (WEGM/Matu2023) [1]

Stellungnahme der SPG

Die Schweizerische Physikalische Gesellschaft (SPG), Mitgliedsgesellschaft der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT), begrüsst die Reformbestrebungen zu der gymnasialen Maturität, die grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen aufgreifen, sowie die daraus folgenden übergeordneten und spezifischen Bildungsziele, wie sie mit starken Gründen und breitem Konsens in der Gesellschaft und Expertenkreisen diskutiert wurden:

  • Bildung für eine partizipative Gesellschaft
  • Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
  • Digitale Bildung und digitale Kompetenzen
  • Vergleichbarkeit der Maturitätsabschlüsse
  • Stärkung der Interdisziplinarität
  • Stärkung der Wissenschaftspropädeutik
  • Stärkung der Naturwissenschaften

Jedoch bedürfen diese Bildungsziele auch konkreter Bedingungen der Umsetzung, die in der vorliegenden Gesetzesvorlage [2] nicht überall realisiert sind, bzw. unbedingt gegenüber anderen Änderungsvorschlägen priorisiert werden müssen. Folgende Änderungen und Festlegungen sind aus Sicht der SPG notwendig:

  1. Anhebung des Anteils an der Unterrichtszeit von Mathematik/Informatik/naturwissenschaftliche Fächer (MINT [3]) sowie der Sprachfächer von 27% auf 29% oder 30%.
  2. Minimale Anzahl Jahreswochenstunden für die experimentellen Fächer [4]: 5 Stunden
  3. Beschränkung der Überkomplexität in der Fächerstruktur der Matura

    a) Keine weitere Erweiterung der Grundlagenfächer in dem Bundereglement über Informatik und Recht/Wirtschaft hinaus. Die Möglichkeit z.B. Philosophie oder Technik oder andere Fächer kantonal als Grundlagenfach anzubieten, sollte aber erhalten bleiben.
    b) Sinnvolle Beschränkung der Anzahl der Wahlfächer und der Profile.

 

Begründung

ad 1: Stärkung der Naturwissenschaften – oder Nivellierung nach unten?

Die Einführung der Informatik ging 2018 mit einer Erhöhung um 2% (von 25% auf 27%) des minimalen Stundenanteils der MINT-Fächer einher. Das aktuell vorgeschlagene Reglement sieht keine weitere Änderung für die MINT-Fächer vor.
Hingegen ist eine Erhöhung auf 29% das Minimum, das der Integration der Informatik entsprechen würde [5]. Eine Erhöhung auf 30% würde tatsächlich die geforderte Stärkung der Naturwissenschaften darstellen: die Erziehung zur Nachhaltigkeit hat ja eine völlig unbestrittene Grundlage in den Naturwissenschaften, ebenso fordert die Stärkung der Wissenschaftspropädeutik Unterrichtszeit.

Im Widerspruch dazu bedeuten 27% wie jetzt vorgeschlagen nicht eine Stärkung der Naturwissenschaften, sondern eine Schwächung!
Diese 27% ergeben sich aus der Orientierung nach dem kantonalen Minimum im Status quo und bedeuten eine Nivellierung nach unten, gleich für welche Fächergruppe. D.h. wenn in zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten ein Lernbereich – aus welchen Gründen auch immer – lokal gegenüber den anderen Kantonen wenig berücksichtigt wurde, wird das nun zu einem Handlungsrahmen auf Bundesebene. Das erscheint für eine mit Blick auf die nächsten Jahrzehnte so gut begründete und dringend benötigte Reform wie Matu2023 als ein denkbar schlechter Ansatz.

Entsprechend erscheint ein Absenkung des Stundenanteils der Sprachen (Status quo 30% min., jetzt 27% min.) – mit Blick auf die wertvolle Schweizer Sprachvielfalt ebenso wie mit Blick auf die Globalisierung – nicht als Änderung, die dem Gebot der Stunde entspricht. Eine gleichgewichtete Berücksichtigung der Fächergruppen MINT und Sprachen ist deshalb eine gut begründete und ausgewogene Forderung.

Dies würde eine Verminderung des kantonalen Spielraums um einige Prozent bedeuten. Es ist aber eine Frage einfacher Arithmetik, dass nicht die og. Bildungsziele und Inhalte (Nachhaltigkeit, Informatik, Interdisziplinarität, usw.) hinzukommen können, ohne dass der Freiraum abnimmt.

 

ad 2: Streuung der Stundenzahlen – Ausreisser nach unten und geminderte Vergleichbarkeit

Eine Minimaldotation der Grundlagenfächer verhindert, dass nicht die Informatik auf Kosten eines einzelnen anderen Faches in der Gruppe eingeführt wird. Im Status quo, ohne eine solche Regelung, ist die Streuung der Stundenzahlen, d.h. die Abweichungen vom kantonalen Mittelwert für verschiedene Grundlagenfächer sehr unterschiedlich. Die relative Streuung insbesondere für die „kleinen“ Grundlagenfächer ist sehr groß, für Biologie etwa 30% gegenüber 8% z.B. in der Mathematik [6]. Es dürfte klar sein, dass hier kaum von interkantonaler Vergleichbarkeit die Rede sein kann, und wichtiger noch, für die jungen Menschen von vergleichbaren Studien- und Lebenschancen in den betreffenden Bereichen. Mit der Forderung einer Mindestanzahl von 5 Stunden pro Grundlagenfach wird dieser Streuung der Stundenzahlen effektiv entgegengewirkt und die Vergleichbarkeit der kantonalen Maturitätsabschlüsse wesentlich erhöht.

 

ad 3: Überkomplexität und Vielzahl von Fächern und Bildungsgängen - Probleme für Orientierung, Organisation und Vergleichbarkeit

Die Vielzahl der angebotenen Fächer und deren Kombinationsmöglichkeiten [2, Art. 13-15] führt zu einer stark erhöhten Komplexität und Schwierigkeiten in der Orientierung der Schüler sich adäquat zu entscheiden; unzureichende Orientierung wurde in der Forschung zum Übergang Gymnasium – Universität als eines der Hauptprobleme identifiziert. Überdies stellt diese Vielzahl die Schulen bei der Organisation der Stundenpläne oft vor unlösbare Probleme, und sie steht im Widerspruch zur Vergleichbarkeit der kantonalen Titel, ohne dass dabei überzeugende Vorteile belegt wurden.

 

Quellen

[1] https://matu2023.ch/de/ ; https://matu2023.ch/fr/
[2] https://www.fedlex.admin.ch/de/consultation-procedures/ongoing#https://fedlex.data.admin.ch/eli/dl/proj/2022/11/cons_1
[3] Streng genommen fehlt im Fächerkanon des Gymnasiums die Technik, wir benutzen hier dennoch die gebräuchliche Abkürzung MINT.
[4] Biologie, Chemie, Physik
[5] Es gilt ungefähr 1% ≙ 1.2 h Jahreswochenstunden (Gesamtzahl Jahreswochenstunden ≈ 120h im Mittel). D.h. eine Erhöhung von insges. 4% (1995: 25% Min.) ist knapp mehr als das Minimum zur Integration der Informatik.
[6] Für ausführliche Angaben und weitergehende Überlegungen zu diesem Thema siehe: VSN/SSPSN (Hrsg./Edt.) (4/2022): chemie + biologe: Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität (WEGM) / Evolution de la maturité gymnasiale , S. 14ff

 

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Am 24.02.2022 ist russisches Militär in die Ukraine eingefallen. Die Schweizerische Physikalische Gesellschaft verurteilt die militärische Attacke der russischen Regierung auf die Ukraine und verlangt ein sofortiges Ende dieser skrupellosen Greueltaten. Unsere Gemeinschaft ergreift Maßnahmen, Studenten und Forscher aus der Ukraine zu unterstützen. Wir schließen ebenfalls russische Wissenschaftler ein, welche sich klar von militärischen Lösungen dieses Konflikts distanzieren.

Wir stehen hinter ähnlichen Erklärungen des Schweizerischen Nationalfonds, der SCNAT und der Europäischen Physikalischen Gesellschaft.

Wir haben Sympathie mit und unterstützen russische Wissenschaftler welche entschieden gegen die Feindseligkeiten protestieren, welche von russischen bewaffneten Kräften auf das Territorium der Ukraine gestartet wurden.